„Wird schon nichts passieren“ zählt einfach nicht mehr

Gedanken zum Besuch bei WILDWECHSEL – dem Festival der ostdeutschen Theater für junges Publikum in Zwickau,
von Nikola Schellmann

** Content Note: Queerfeindlichkeit, Thematisierung von Übergriffigkeit und Gewalt **


Es ist ein Festivalabend bei WILDWECHSEL, ein Austauschabend unter Kolleg*innen.
Eine queere junge, männlich gelesene Person ist auch dabei, sie lebt in Zwickau und ist Teil des Festivalteams für Social Media.
Als die Person geht, nimmt sie Ohrringe ab, zieht sich einen dunkelgrauen Kapuzenpulli über ein buntes T-Shirt und über Tattoos. Ich muss Tränen unterdrücken angesichts dieser Sicherheitsmaßnahme. Zuvor hat die Person erzählt, dass es schwierig und gefährlich sei, in Zwickau zu leben und auf die Straße zu gehen, anders auszusehen oder sich zu kleiden als die meisten anderen Personen.

  • POV. Ich habe mich auch schon gegen Kleidungsstücke in bestimmten Situationen entschieden. Mir wurde auch schon in der Öffentlichkeit Gewalt angedroht.

Die Person hat in der Runde angesichts der queer-, homo- und transfeindlichen Angriffe gegen die Teilnahme von CHICKS* freies performancekollektiv von einer großen Enttäuschung in der Community berichtet, dass die Gastspiele aus Budgetgründen abgesagt werden mussten. Es wäre so wichtig gewesen, diese Künstler*innen in Zwickau zu haben. Die Person, ihre Freund*innen hätten sich gerne ausgetauscht und gerne diesen Raum gehabt, mit den Künstler*innen, mit der Community, mit anderen jungen Menschen.
CHICKS* haben nicht am Festival teilgenommen. Weder als Künstler*innen noch als Gesprächspartner*innen noch als Besucher*innen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.

  • POV. Ich checke nochmal, welche Kleidungsstücke ich eingepackt habe. Ich spüre Unbehagen, angesichts der rechtsradikalen und queerfeindlichen Hetze nach Zwickau zu fahren. Ich sage es ganz ehrlich.

Es fällt mir schwer, diesen Text zu schreiben. Weil ich mich noch nicht sortiert habe, weil ich nicht alles an diesen Vorgängen kenne und verstehe, weil ich nicht annähernd ausreichend mit Personen gesprochen habe, die in die Vorgänge involviert sind oder waren.

Ich schreibe aus Perspektive einer Person, die versucht, Diskursprogramme, Tagungen, Gesprächsformate fruchtbar zu machen für Theater- und Kunstschaffende;
die versucht, der Theaterwelt zu sagen: „Schaut genau hin! Bildet Euch weiter! Tauscht Euch aus!“;
der regelmäßig gesagt wird „Wir haben keine Lust mehr, über Strukturen und Diversität zu reden“ oder „Du bist so kritisch“.
Ich sage: Genau das ist dringend nötig.

  • POV. Ich komme im Hotelzimmer in Zwickau an, das Bett ist benutzt, das Handtuch noch nass. Mein Unbehagen wird größer.

Ja, alle wollen ihre Kunst machen. Und drüber sprechen. Davon leben können. Förderungen erhalten. Ja, das ist wichtig. Kunst für und mit jungen Menschen, für und mit erwachsenen Menschen.
Aber das passiert nicht im luftleeren Raum. Wir müssen Fragen stellen, wir müssen an mehr Dinge denken, als wir das vielleicht gewohnt sind. Und wenn wir das nicht selbst können, müssen wir andere Menschen fragen.
Und ja, andere Menschen haben auch möglicherweise andere Bedürfnisse. Die Arbeit bedeuten. Es ist eine Sache, die Diversität in einer Festivalauswahl als wichtig und als Errungenschaft zu sehen. Aber es ist eine andere, wie damit umgegangen wird, wenn es brenzlig, problematisch, gefährlich wird.

  • POV. Wenn wir jene Perspektiven aber weglassen, die vielleicht Mehrarbeit machen würden, ziehen sich die Rechten das als Triumph rein.

Diskriminierungssensibles oder intersektionales Veranstalten ist nicht nur Gerede, nicht nur der Hot Shit, State of the Art, ein Add-On. Oder etwas, das man als Festival jetzt machen muss, weil man es woanders gesehen hat. Oder das sich jetzt in einer bestimmten Szene-Bubble so gehört.
Sondern es sollte passieren, weil es wichtig ist. Für Kunstschaffende, für Festivalmacher*innen, für Veranstalter*innen, Gastgeber*innen. Weil all diese Veranstaltungen für Menschen gemacht werden – so wird es zumindest immer gesagt, „für unser Publikum“.
Mein Eindruck ist, dass die Sprache in diesem Zusammenhang oft weiter entwickelt zu sein scheint als das Tun. Ich habe Vorschläge für Fragen zur Selbstüberprüfung:1 Warum mache ich das? Warum will ich Perspektiven einbeziehen? Und wie rede ich eigentlich, wenn niemand zuhört?
Wer profitiert davon, dass ich bei meiner Veranstaltung von Öffnung, Zugänglichkeit, Inklusion, Perspektivenerweiterung spreche? Ich selbst, für mein Selbstbild oder das Selbstbild einer Institution? Welche Motivation habe ich dafür? Zielt meine Motivation auf die Sachebene oder auf eigene Standards?
Ich will nicht sagen, dass die eine oder die andere Motivation die richtigere oder bessere ist. Es geht vielmehr um eine Produktivmachung: Nicht eine ‚falsche‘ Motivation soll verhindert werden, sondern es muss immer wieder im Arbeitsprozess abgecheckt werden, ob unterschiedliche Motivationen verschiedener Beteiligter übereinstimmen.
Und wir brauchen nicht von institutionellem Wandel oder Bewusstsein zu sprechen, wenn Einzelne in diesen Arbeitsprozessen Gewalt erfahren.

  • POV. Ich bin ungeplant zum Festival gefahren, weil ich es als solidarische Geste wichtig fand, das Festival mit Anwesenheit zu unterstützen. Als ich das Kolleg*innen vor Ort erzähle, sind sie verwundert und fragen mich, warum.

Äußerungen und Handlungen können Menschen verletzen. Festivals sind auch Handlungen, fehlende Solidarität oder Lösungssuche sind Handlungen.
Sprache ist Äußerung; Öffentlichkeitsarbeit, Journalismus, Instagram-Posts sind Äußerungen.
Sich dessen bewusst zu sein heißt nicht, dass man alles mitdenken kann, dass man eine Veranstaltung dann automatisch zu einem wundertollen Ort für alle machen kann, an dem Hotelbetten stets frisch bezogen sind, niemand was gegen LECKEN hat, keine Fördergelder gestrichen werden und männlich gelesene Personen mit Ohrringen und Nagellack ohne Angst in der Öffentlichkeit unterwegs sein können.
Das ist eine Utopie. Aber wir können zusammenarbeiten und die Menschen ernst nehmen, mit denen wir das tun.

  • POV. „Wird schon nichts passieren, wir brauchen kein Awareness-Team“ zählt einfach nicht mehr. Dafür ist schon zuviel passiert.

Ich schreibe diesen persönlichen Kommentar, nachdem ich Mitte September beim WILDWECHSEL-Festival war und mich das mehr mitgenommen hat als ich dachte. Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr Zusammenhänge ich verstehe, umso schlimmer.
Alle diese POVs haben nicht unbedingt miteinander zu tun oder ergeben den Grund, weshalb ich zum Festival fahre oder nicht. Aber sie sind alle Teil einer Struktur, in der ich mich bewege und die mich beeinflusst. In der ich Fragen stellen muss. Und dann kann ich auch tolle Kunst gucken — zum Beispiel „All das Schöne“ vom Landestheater Eisenach, „Kompost-Horror“ vom Theater an der Parkaue/Theater Thikwa, Agora-Formate des AK Ost und der Partnertheater vor Ort in Zwickau.
Und kann über tolle Kunst reden. Zum Beispiel mit den Personen der jungen Jury (die übrigens sofort das Gespräch auf Strukturen lenkten). Ich solidarisiere mich mit allen queeren jungen Menschen, die ich vor Ort in Zwickau kennenlernen durfte, mit euren Freund*innen, Allies und Communities. Danke für alle Gespräche. Bleibt stark.


  1. Danke an Leyla Ercan und Katharina Wisotzki für Gespräche und Gedanken zu diesem Thema. ↩︎

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