„Vielleicht werden wir angehört – aber zuhören tut uns niemand!“

von Julia Kizhukandayil

** Content Note: Queerfeindlichkeit, Thematisierung von rechter Gewalt **

Das habe ich in den letzten Wochen nicht nur einmal von verschiedenen Künstler*innen und Expert*innen mit Marginalisierungserfahrung gehört und nicht zuletzt deswegen beschäftigt mich die Frage, was eigentlich passiert wäre, wenn CHICKS* freies performancekollektiv zugehört worden wäre – und zwar in dem Moment, in dem es zu rechten Anfeindungen, Drohungen und Diskriminierungen gegen sie gekommen ist?![1]

Und was bedeutet „zuhören“ eigentlich?

Es bedeutete für mich, CHICKS* in diesem Moment ins Zentrum der Debatte zu stellen, und zwar mit einer ganz einfachen Frage: „Was braucht ihr jetzt?!“

Und das waren ihre Antworten:

1. Wir wünschen uns eine Diskussion über den Inhalt von LECKEN und die Bedeutung für die Zielgruppen, insbesondere den queeren Jugendlichen vor Ort.

2. Wir wollen gemeinsam mit Partnern stark und laut gegen die Rechten agieren. Wir wollen über das Geschehene reden.

3. Wir wollen Kulturinstitutionen dabei unterstützen, in Zeiten von finanziellen Notlagen miteinander solidarisch zu sein, und wir wollen klären, welche Sicherheitskonzepte es braucht.

4. Wir leisten Aufklärungsarbeit, haben zusätzliche Rechtskosten und müssen uns Beratung und Hilfe bei Beratungsstellen suchen. Wir wissen nicht, wie wir diesen Mehraufwand finanzieren sollen.

Tatsächlich ist die die inhaltliche Diskussion um LECKEN stark in den Hintergrund getreten. Damit verbunden auch die Bedeutung des Stücks für Jugendliche vor Ort und die Räume, die verschlossen blieben, weil die Produktion nicht gezeigt wurde. Eine inhaltliche Diskussion darüber, dass queerfeindliche Hetze über Wochen gegen eine eingeladene Künstler*innengruppe stattgefunden hat, kann nicht erst in 2024 geführt werden. Sie hätte spätestens dann beginnen müssen, als die ersten Drohnachrichten eingegangen sind und sich in Windeseile in den sozialen Medien verbreitet haben. Diese Zeit haben wir nicht: Jetzt sind Künstler*innen betroffen, jetzt braucht es eine inhaltliche Aufarbeitung, sonst fühlen sich die Rechten in ihren Anfeindungen bestätigt. Das kann gravierende Folgen haben, z.B. künstlerische Auseinandersetzungen zu diversen Themen einschränken oder gar verhindern sowie den Jugendlichen wichtige Erfahrungsräume verschließen und sie somit in ihrer Entwicklung als autonome und selbstbewusste Personen beeinträchtigen.

Dem Wunsch, über das Geschehene zu reden, möchte das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (KJTZ) in Zusammenarbeit mit PERSPEKTIV:WECHSEL am 10. November beim Frankfurter Forum Junges Theater 2023 nachkommen: Das Panel „Intersektionale Solidarische Praxis unter Theatermacher*innen“ moderiert von Aisha Camara thematisiert den zunehmenden gesellschaftlichen Rechtsruck und damit einhergehende Anfeindungen, denen Theater und marginalisierte Künstler*innen und Performer*innen ausgesetzt sind, gemeinsam mit CHICKS*, der Bildungsstätte Anne Frank, dem Theaterprojekt zum NSU-Komplex „Kein Schlussstrich!“ und der Regionalstelle Süd des Beratungsnetzwerk Hessen – Gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Eine Anmeldung dazu ist über die Website möglich.

Wie können wir uns in Zeiten von finanziellen Kürzungen gegenseitig unterstützen, um gegen rechte Hetze laut zu sein? Auch hier würde ich CHICKS* und die Betroffenen von rechter und queerfeindlicher Gewalt ins Zentrum rücken und fragen: Wäre es möglich gewesen, dass ein anderes Gastspiel zurückgetreten wäre, damit CHICKS* ihre Produktion hätten zeigen können? Wäre es möglich gewesen, andere, größere Bühnenräume zu finden oder das Bühnenbild zu verändern? Wurde das Thema Sicherheit nicht ausreichend von Veranstalter*innenseite thematisiert und/oder wurden Bedenken und Unsicherheiten transparent kommuniziert?

Das Bündnis PERSPEKTIV:WECHSEL hat CHICKS* gebeten, ihre Lernerfahrungen in Bezug auf ihre Aufklärungsarbeit, Umgang mit rechter Hetze, interner und externer Kommunikation, rechtlichen Fragestellungen und Sicherheitskonzepten mit dem Bündnis und der Szene in Form einer „Künstlerischen Hausbesetzung“ zu teilen. Dazu haben sich alle Bündnispartner solidarisch bereit erklärt, auf eigene Ansprüche zu verzichten, um CHICKS* aus Bündnismitteln 10.000 Euro zur Verfügung zu stellen. Ergebnisse dieser Künstlerischen Hausbesetzung werden hier geteilt.

Was bleibt, ist mein dringender Appell für mehr Zuhören und nicht nur das Anhören: In den meisten Kulturinstitutionen fehlen die Perspektiven von marginalisierten Praktiker*innen. Wir nehmen unsere Umwelt mit unserem situierten Wissen wahr und handeln danach. Das bedeutet, dass z.B. Bedrohungslagen sehr unterschiedlich eingeschätzt werden – was jedoch nicht bedeutet, dass niemand bedroht wird. Die Dringlichkeit von Sicherheitskonzepten und/oder Awareness Teams erschließt sich einer weißen und normprivilegierten Institution nur, wenn sie bereit ist, eigene Privilegien zu reflektieren, die eigene weiße und cis-heteronormative Perspektive nicht mehr als Norm begreift, um zu verstehen, dass die eigene Perspektive immer nur eine von unendlich vielen weiteren ist.

Um diesen Perspektivwechsel zu vollziehen, braucht es aber genau das: Aktives Zuhören.

Vielen Dank an Gabriela Mayungu für unsere Gespräche und das kritische Lektorat dieses Textes.

Lesen Sie jetzt auch zu diesem Thema den Text „‚Wird schon nichts passieren‘ zählt einfach nicht mehr“ von Nikola Schellmann. Hierin schildert sie ihre Gedanken und Erfahrungen beim Besuch des diesjährigen Festivals WILDWECHSEL.


[1] Mehr Information zur Absage des Stücks LECKEN beim Wildwechsel-Festival hier.

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