Vom 20. bis 24.11.2023 fand unter dem Motto Turning Point das ASSITEJ Artistic Gathering (AAG) in Novi Sad / Belgrad (Serbien) statt: Im Zuge eines Theaterfestivals kamen Theatermacher*innen aus der ganzen Welt zusammen, um TYA (Theatre for Young Audiences) zu performen, zu schauen und zu diskutieren. Im Vorhinein des AAGs trafen in Sremski Karlovci (Serbien), im Rahmen der Residenz Next Generation, 15 junge Theaterkünstler*innen des TYA aus 11 verschiedenen Ländern aufeinander. Die Residenz stand unter dem Thema: Sustainability As The Future Of TYA, organisiert von Od Malih Nog(u).
von Judith Bethke
Judith Bethke (1998) ist Studentin der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und kam während ihres einjährigen Auslandsaufenthalts in Zagreb (Kroatien) erstmals mit dem Neuen Zirkus und dem Figuren- und Objekttheater in Berührung. Sie arbeitet in der freien Theaterszene: solo, im „geteiltdurchdrei kollektiv“ (Theater für junges Publikum) und in wechselnden Projektkollektiven. Seit Oktober 2022 studiert sie Regie als Gaststudentin an der Akademie der Darstellenden Künste in Sarajevo (Bosnien und Herzegowina).
am Anfang die Schwere
Als ich in Sremski Karlovci ankomm‘, bin ich: müde. Müde von herzausschöpfendem, unbezahltem Arbeiten und vom Zukunftsängsteln; müde von Dingen, die sich zu schnell verändern und von Dingen, die sich niemals zu verändern scheinen; müde vom Auftaubeohrenstoßen und Nichtaufgebendürfen; und auch irgendwie vom Leben. Die erste Information, auf welche ich dann treffe, ist passenderweise die, dass Mensch biologisch betrachtet mit 25 in der höchsten Blüte des Lebens steht, besser wird’s nicht mehr; und ich geb‘ mich – besorgniserregend schnell – zufrieden damit, von nun an zu verwelken.
ich walde dich
Ich muss Stöcker sammeln geh‘n im Grünen und sehe mich darin bestätigt, wie dissoziiert ich bin von der Natur: Baum. Baum. Baum. Wieder Baum. Baum. Gras. Baum. Stock. … Wir schreiben weirde Gedichte in allen Muttersprachen. Manche sind für die Tonne, manche zum Seufzen. Wir verstehen uns im kichernden Kauderwelsch. Es gibt ein Klavier. Ich scheitere daran ein ägyptisches Liebeslied zu spielen, aber aus den Handylautsprechern lauschen wir es schön. Es gibt eine Katze namens Micika. Ich bin ein bisschen beleidigt, dass sie einen anderen Lieblingsmenschen hat und anscheinend lieber Slowenisch mag als Deutsch. Immerhin lern‘ ich die herzallerliebste Beleidigung, die ich je gehört habe: Naj te koklja brcne! (Slowenisch: Soll das Hühnchen dich treten!). Das passt irgendwie zu dem Gefühl, dass wir als Kinder- und Jugendtheaterleute unter den Künstler*innen die Loser der Loser sind, PROUDLY. Ich bekomme eine indische Geschichte erzählt, über eine Frau, die sich nackt auswickeln soll, aber sie gehorcht nicht und ihr Tuch dauert ewig;
und gebe im Gegenzug eine kleine Häkelstunde. Ich erfahre, dass in Mexiko die erste Trans-Politikerin umgebracht wurde und dass im Licht Pastellfarben verschwinden. Dass Brasilien voll Gewalt ist und es eine magische Lola gibt, die unter ihrem Rock ein Theater versteckt – Quem não crê no misterio, não pode fazer teatro (Portugiesisch: Wer nicht an das Mysterium glaubt, kann kein Theater machen.). Dass der Schal, den ich trage, persisch ist. Dass die artsy cool Kids vom Belgrader Tramkreis 2 ein Jahr gebraucht haben, um zu checken, dass ihr Kollege aus der serbischen Entität Bosnien und Herzegowinas kein Moslem ist. Dass die Schweiz korrupt ist und die Polizeigewalt hoch. Dass Zagreb nicht mehr das ist, was es einmal war. Dass Podgorica hässlich, aber vollschöner Menschen ist. Dass Novi Sad sich anfühlt wie Split, nur ohne Meer.
zersplittern wir leise
So rauschen wir wellenartig um- und ineinander und bemerken, bis wir ufern, gar nicht, dass wir ein Wir geworden sind. Als eine vom Hühnchen getretene Gruppe aus Losern der Loser, die unter ihrem knallfarbenden Rock den Ungehorsam versteckt, treten wir in die Realität des Festivalns und Gatherns. Manchmal schütteln wir Hände und lachen und klatschen und freuen uns herzlich und ehrlich. Manchmal werden wir sauer und heben den Saum. Da sind zum Beispiel Stücke, die Kinder nicht richtig ernst zu nehmen scheinen. Und Reden, die fast missionarisch klingen. Und da ist eine Lesung und Diskussionsrunde zum Dramenschreiben für und mit jungen Menschen mit Down-Syndrom. Es wird gelesen und geredet und geredet… und es ist keine einzige Person mit Down-Syndrom im Raum. Eine Handmeldung aus unserer Gruppe: Nothing about us without us! Das ist Othering1, und das ist nicht okay; eine weitere: And what about authorship?, Wem gehört das Gelesene denn überhaupt und warum sind manche Personen, die es urhebern, nicht da und warum seid stattdessen ihr hier.
Period.
Wir lassen uns auch humblen: Dalija Acin Thelander radiert uns im Workshop Creating Performances for Babies & Children with Disabilities ein paar tief eingebrannte Theaterkonventionen aus den Kunsthirnen: zum Beispiel, dass Theater kognitiv verstanden werden oder pädagogisch wertvoll sein muss; oder dass es in der Kunst überhaupt um uns als Künstler*innen geht. Wir lernen, uns selbst egaler zu sein.
my heart ti kaže bumkabum / ka-krhko khrkaš mi / kracks kracks drš drš sind tapš tapš honey[1]
Zašto ih nije briga (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch: Warum ist es ihnen egal) heißt ein Stück aus Sarajevo (Bosnien und Herzegowina), das über die Rampe gedonnert kommt. In herzzerreißender Clownerie erzählen fünf Polartiere kauderwelsisch von der Klimakrise.
Mein deutsches Zuschauerinnenauge kann da nur staunen: Auf der Bühne wird geraucht und gestorben, spontan brechen Krachmach-Protestsongs aus, alles Mögliche wird zerhauen und zum Schluss ist die Erde einfach nur unwiederbringlich kaputt: Ein apokalyptischer Gasmasken-Anzug stellt das Schild „Dead End“ auf die Bühne, Black.
Ich bekomm direkt richtig Bock, die ganze Welt-Scheiße schrottzukloppen, vor allem die, die sich verkauft als Friede-Freude-Eierkuchen – an den Kinder nämlich genauso wenig glauben, wie wir. Punk ist also doch noch nicht ganz tot, und absolut kindertauglich.
Ganz anders, aber genauso wuchtig ist YES YES YES aus Aotearoa (Neuseeland). Das Tabu-Thema sexualisierte Gewalt wird hier mit einfachen Theatermitteln halb-dokumentarisch und stellenweise durch die Partizipation von Teenagern aus dem Publikum erzählt. Das Stück nimmt kein Blatt vor den Mund, beschönigt nichts und schafft es trotzdem, unglaublich caring zu sein. Es fühlt sich gut an zu weinen.
und kap po kap
und dah po dah
und bum po bum po tam po tam
grummeln grmimo brbljavo, šutljivo
šu šu bum
uns šljap šljap weg
mi: šljap šljap, weg.[2]
Die Stöckerhaufen haben wir wieder zurück in den Wald gebracht, aber mit Rakija stoßen wir zum Abschied an: auf ein nachhaltiges Wir. Später laufen wir ganz kitschig und betrunken durch die Nacht und brüllen niemandem, der uns hören will, zu: WE ARE THE NEXT GENERATION! Das ist natürlich irgendwie Quatsch, und vor allem sehr selbstironisch.
Weil ich will eure Macht ja gar nicht. Ich bin auch nicht die Zukunft. Diese ganzen Positionen und Leitern und Händeschüttlereien interessier‘n mich nicht die Bohne. Ich bin mir tatsächlich ziemlich egal. Nur wenn die Dinge nicht anfangen, sich zu verändern, dann müssen die Ohren halt doch mal sich ordentlich aufsperren und verstehen, was ich mein‘, wenn ich das sag‘: dass Macht halt nicht übernommen, sondern verteilt werden muss.
Und ich denk, vielleicht ist es nicht ganz nicht-egal, dass ich zurückkomme, lebensWACH, mit hochgekrempelten Ärmeln, und mit meiner Seele weit. Jemand hat uns gesagt: Na, an irgendetwas glaubt ihr, sonst wärt ihr nicht hier. Und das stimmt. An irgendetwas glaub‘ ich. Jetzt wieder. Ganz unironisch.
kursive Zwischenüberschriften: Auszüge aus Gedichten, die während der Residenz entstanden sind (in der Fußzeile: Übersetzung eines Versuch eines mehrsprachigen, onomatopoetischen Gedichts für Babies und Kleinkinder bis 2 Jahre (Auszüge))
[1] mein Herz sagt dir bumkabum / zer-zerbrechlich zerbrichst du mir, wir / kracks kracks drsch drsch sind tapsch tapsch Honig
und Tropfen für Tropfen
und Atem für Atem
und bum für bum für tam für tam
grummeln donnern wir schwatzig, schweigsam
schu schu bum
uns schljap schljap weg
wir: schljap schljap, weg.
- Othering ist ein Begriff aus dem Englischen und lässt sich ins Deutsche als „geandert“ übersetzen. Dabei handelt es sich um eine Bezeichnung, die den Vorgang der Andersmachung beschreibt. Eine Gruppe oder eine Person grenzt sich oder hebt sich von einer anderen Gruppe oder Personen ab. Letztere werden gleichzeitig als andersartig oder fremd markiert. Die daraus basierende Distanzierung und Unterscheidung zu den „Anderen“ hat das Ziel, die Normalität der „Wir-Gruppe“ zu bestätigen. Siehe: https://www.jungespublikum.de/wissen/bewusst-sein/wort-schatz/ (11.01.2024) ↩︎

