Die Juror*innen für den Deutschen Kindertheaterpreis 2024 und den Deutschen Jugendtheaterpreis 2024 haben ihre Vorentscheidung getroffen: Sechs Autor*innen sind für die beiden Preise nominiert, die am 22. November in Frankfurt am Main verliehen werden.

Nominiert für den Deutschen Kindertheaterpreis 2024
Milan Gather (Deutschland) mit Oma Monika – was war? (8+)
Theaterstückverlag im DREI MASKEN VERLAG, München
Begründung der Jury:
Immer wenn seine Eltern keine Zeit für Balthasar haben, ist er bei seiner Oma Monika, und zwar oft und gern. Sie singen darüber, wie gut sie zusammenpassen und sie lachen darüber, dass bei Oma zuweilen etwas aus dem Kopf herausfällt. Manches Mal weiß Oma Monika nicht, wer Oma Monika ist. Auf der Suche nach sich selbst durchlebt sie in ihrer Küche mit Balthasar Stationen ihres Lebens. Oma Monika war Journalistin und hat mit ihren Artikeln für die Gleichberechtigung von Mann und Frau gekämpft. Daran erinnert sie sich gemeinsam mit Balthasar, der seine Oma auf diese Weise neu kennenlernt. Auch wenn sie in der Gegenwart mal etwas vergisst, ist sie doch in ihrer Vergangenheit noch immer zuhause.
Die Handlung des Stücks geht zu Herzen, ohne kitschig oder sentimental zu sein. Die Perspektiven der demenzkranken Großmutter und des besorgten Enkels werden immer ernst genommen. Die Lieder, die beide gemeinsam singen, sind nicht nur Beiwerk, sondern fügen der Geschichte eine entscheidende Dimension hinzu und treiben die Handlung voran.
Milan Gathers Stück hat eine große Leichtigkeit, ist komisch und traurig zugleich und ein Theatertext für alle Generationen, im Publikum und auf der Bühne.
Lena Gorelik (Deutschland) mit SagdochmalLuca (12+)
Rowohlt Theaterverlag, Hamburg
Begründung der Jury:
Luca hat Luis in der Sportumkleide mit einer Eisenstange geschlagen! Oder doch nicht? Die Klasse ist sich uneins, niemand kennt die ganze Geschichte, aber jede*r hat irgendetwas zu berichten. Zum Beispiel, dass Luca und Luis eigentlich schon immer befreundet waren. Dass Luis sich auch immer auf Lucas Seite gestellt hat, wenn andere nicht akzeptieren wollten, dass Luca non-binär ist. Aber hatten die beiden nicht auch Streit? Und welche Rolle spielt Alessia nochmal in der ganzen Geschichte?
In Lena Goreliks Stück werden die Widersprüche nicht nur zugelassen, sondern ins Zentrum gestellt. Eine Schulklasse spekuliert, rekonstruiert und spielt nach – jedoch ohne die Personen, die tatsächlich beteiligt waren. So wissen wir selbst am Ende immer noch nicht, was passiert ist, doch wir lernen, was für eine Macht Gerüchte und Vorurteile haben können.
Mit seiner einnehmenden Dynamik stellt uns dieses Stück vor immer neue Spekulationen. Der Autorin gelingt es auf beeindruckende Weise, uns in dieser Geschichte nicht nach Tätern und Opfern suchen zu lassen, sondern uns von jungen Figuren mit all ihrer Komplexität zu erzählen.
Matin Soofipour Omam (Deutschland) mit Raumrauschen (12+)
Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin
Begründung der Jury:
Am Anfang war das Wort? So der Konsens, oder?
Wie ein frischer Wind rauscht das wunderbar authentisch interaktive Theaterstück von Matin Soofipour Omam hinein. Hier folgt das Wort dem Menschen und zeigt, wie einfach Räume sich öffnen können, wenn wir bereit sind, mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu erwarten. Und in diesem Raum sind wir gefragt. Und gefordert. Wir werden gehört. Gesehen. Wir sind gemeint, wenn die Frage lautet: „Können wir, wollen wir, sollen wir!?“ Ja, Raumrauschen will es wirklich wissen und verschwendet keine Zeit, um genau solche Räume zu öffnen. Für uns. Für dich. Für mich. Hier kann ich endlich das Rauschen durchdringen, dass sonst so laut dröhnt, dass ich meine eigenen Fragen nicht hören kann. Egal in welcher Sprache. Also, soll ich? Will ich? Kann ich? Warum nicht? Denn hier komme ich vor. Hier kann ich schreien oder schweigen. Ich kann suchen oder finden. Ich kann lachen und weinen, hier … habe ich eine Chance.
Ob sprachlich, inhaltlich oder formal – Raumrauschen schafft Möglichkeiten und die Chance, zumindest einmal im Leben zu erfahren, wie es sich anfühlt gemeint zu sein, wenn der Konsens beschließt: Am Anfang, ja am Anfang, da war das Wort.
Nominiert für den Deutschen Jugendtheaterpreis 2024
Özlem Özgül Dündar (Deutschland) mit Mädchenschrift (15+)
Rowohlt Theaterverlag, Hamburg
Begründung der Jury:
Ein junges Mädchen wird zur Frau gemacht. Ob sie das will oder dafür bereit ist, fragt niemand. Plötzlich sind ungewollte Blicke und sexuelle Übergriffe im Alltag omnipräsent. Dagegen müsse man eine harte Schale entwickeln, mahnen Mutter und Oma, denn als Schwarze Frau dürfe man nicht schwach sein. Doch die Protagonistin wehrt sich, diese Lebensrealität schweigend hinzunehmen: Sie lässt sich nicht länger niederdrücken, sie will aufbegehren. Sie will endlich eine Welt ohne Übergriffe, in der sie selbstbestimmt leben kann.
Präzise und zugleich poetisch beschreibt die Sprecherin dieses Monologs ihre Frauwerdung. Der Text entwickelt einen Fluss, der mitreißt, emotional tief bewegt und sich schließlich mit seinen Forderungen direkt an sein Publikum wendet, um es am Ende aufzufordern, „die anklageschrift zu nehmen und sie allen an den kopf zu knallen bis jedes wort […] in den köpfen angekommen ist und nicht mehr wegzudenken ist.“
Özlem Özgül Dündars Monolog ist ein ergreifendes Manifest, das sein Publikum zum Weiterdenken, -reden und -handeln ermächtigt. Formal beeindruckt der Text durch Reduktion, das Weglassen jeglicher Regieanweisungen und Interpunktion sorgt für eine vollständige Immersionserfahrung und lädt zur eigenen Interpretation ein.
Julia Haenni (Schweiz) mit angst oder hase (12+)
Verlag der Autoren, Frankfurt am Main
Begründung der Jury:
Wer hat Angst vor dem weißen Kaninchen? Diesem süßen, weißen Häschen, das doch ein süßes weißes Häschen ist. Davor kann doch kein Mensch Angst haben. Davor wird ein Mensch Angst haben, wenn Julia Haenni drei Spieler*innen (meistens) und mindestens einen Hasen (wahrscheinlich mehrere) auf eine absurde Reise gegen die Angst schickt. Oder mit? Auf jeden Fall über. Das ist auch viel besser als unter. Kriegen. Aber das braucht halt Mut. Und wenn angst oder hase ein Indikator ist, braucht es Witz, Neugier, Poesie, Charme und eine große Prise Charakter. Und so stellt sich dieser kluge, vielschichtige Text, der sich nie zu ernst nimmt, mit allem Ernst gegen die Angst. Und den großen und kleinen Fragen des Lebens: Ist es möglich mutig zu sein, wenn man gar keine Angst hat? Wer entscheidet eigentlich, ob etwas Angst macht? Ist ein weißer Hase niedlich und kann Mut ein kollektives Gefühl sein?
Julia Haenni schenkt uns mit angst oder hase einen mutigen Theatertext wider die Angst. Mit Wortspielen, Sprüchen, Spaß und einer wohltuend gelungenen Metatheatralik, macht das Stück Hoffnung, dass Angst überwunden werden kann und zeigt, dass Mut manchmal schon bedeutet, sein Knoppers bereits um neun Uhr zu essen.
Silvan Rechsteiner (Schweiz) mit Mosaik (12+)
Rowohlt Theaterverlag, Hamburg
Begründung der Jury:
Über fünfzehn Steine führen die Szenen des Stücks vom Tod der Mutter, als Silas acht Jahre alt ist, bis in die Zukunft, in der Silas selbst ein Kind hat. Wie Stepstones geleiten die Szenen durch den Fluss des Lebens, immer im Zickzack durch Silas‘ Lebensalter, mal vor und mal zurück. Silas will kein Junge sein, wie die Eltern ihn sehen. Silas will Silas sein. Die Eltern verzweifeln darüber, aber die Großmutter versteht und unterstützt Silas. Die Beziehung zu Carla, die Silas nimmt, wie Silas ist, macht Silas glücklich, bis Carla den Druck der Mitschüler*innen, die Silas mobben, nicht aushält. Da erzählt Silas‘ Papa von seiner früheren Beziehung zu einem Mitschüler, die sein Vater verhinderte. Am Ende wird Silas Papa mit dessen ehemaligem Schulfreund zusammenbringen.
Halb dialogisch, halb chorisch und monologisch, erzählt und kommentiert der Text die Geschichte mit vielen Zeitsprüngen in einer eigenwilligen, rhythmischen und poetischen Sprache und erzeugt eine große Leichtigkeit. Die Uneindeutigkeit der Sätze und Handlungen erzeugt überwältigende Prägnanz.
Ein Stück über Geschlechteridentität, das nicht Mitleid erzeugt, sondern Sympathie für die und Empathie mit der Hauptfigur.
Die Listen der Stücke, die in der engeren Auswahl der Jury waren, finden sich unter www.jungespublikum.de.
Die Preise sind mit je 10.000 Euro dotiert, nominierte Autor*innen erhalten je 3.000 Euro.
Preisträger*innen der Sonderpreise für Studierende
Mit der Auslobung des Deutschen Kindertheaterpreises 2024 und des Deutschen Jugendtheaterpreises 2024 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gleichzeitig bis zu drei Sonderpreise für Studierende des Szenischen Schreibens oder ähnlicher Studienrichtungen ausgeschrieben. Ziel ist es, Studierende des Szenischen Schreibens schon während ihrer Hochschulausbildung mit den Chancen und Möglichkeiten des Schreibens für junges Publikum, aber auch mit den besonderen Heraus- und Anforderungen an Autor*innen des Kinder- und Jugendtheaters vertraut zu machen. Die Sonderpreise sind mit je 1.000 Euro dotiert.
Leah Luna Winzely mit Der Wassermann (9+)
Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin
Begründung der Jury:
Lasse vermisst seinen Vater. In seinen Träumen stellt er ihn sich als Wassermann vor. Lasses Mutter schmerzt dessen Traurigkeit und dass ihr Job ihr keine Zeit lässt, sich um seine Sehnsucht zu kümmern. Und in der Schule lachen ihn alle aus, wenn er von seinem Wasserpapa erzählt. Nur Ju nicht. Ju hat auch keinen Vater und sagt, das sei nicht schlimm. Ju ist sogar ziemlich froh, dass der gewalttätige Vater nicht mehr bei ihnen ist. Doch auch Ju vermisst etwas. Nicht den Vater, aber „das Gefühl einen Papa zu haben. Eine Familie zu sein.“ Als Lasse 15 Jahre alt ist, kommt ein Brief von seinem Vater. Und er weiß nicht, ob er ihn verbrennen, vergessen, beantworten soll. Er fährt mit Ju ans Meer und wirft einen Brief an den Wasserpapa hinein. Und entscheidet sich für jenen Vater, der ihm immer nah war.
Lasses Spiel mit der Vorstellung, sein Vater sei ein Wassermann, weil er im Februar geboren ist, ist mehr als kindliche Naivität. Es ist seine Überlebensstrategie, um der unendlichen Sehnsucht nach dem Vater etwas entgegen zu setzen.
Mit poetisch fragmentierter Sprache, manchmal dialogisch, manchmal geradezu lyrisch, erzählt Leah Luna Winzely beeindruckend die Geschichte einer Selbstermächtigung.
Lili Roesing mit Rückenschwimmen (13+)
Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin
Begründung der Jury:
Melissa, Elia, Laura und Ilayda sind Freundinnen. Sie gehen zusammen zur Schule, sie gehen auf Demos, sie gehen auf Partys. Sie haben das Gefühl, allmählich die richtigen Orte und die respektvollen Typen zu finden – da wird Melissa auf einer Party Opfer eines Übergriffs. Von da an gerät für sie und ihre Freundinnen alles ins Wanken. Wie macht man weiter nach so einer Erfahrung? Die Antwort: zu viert.
Lili Roesings Stück gelingt es, eine sexualisierte Gewalterfahrung sensibel und doch eindeutig zu thematisieren. Besonders eindrucksvoll ist die Metapher des Rückenschwimmens, mit dem erst von der eigenen Ohnmacht und schließlich dann von der kollektiven Ermächtigung erzählt wird. Gleichzeitig wird schmerzhaft realistisch dargestellt, wie nur die Freundinnen Melissa begleiten und ihren Konflikt teilen, während die eigentlich für Verbündete gehaltenen Typen sich aus der Verantwortung ziehen.
Lili Roesing findet eine poetische und kraftvolle Sprache, die emotional berührt und inspiriert. Rückenschwimmen lässt darauf hoffen, dass nicht nur Gewalt, sondern auch Heilung eine Kollektiv-Erfahrung sein kann.
Julia Herrgesell mit FÜCHSE (12+)
Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin
Begründung der Jury:
DER FUCHS sitzt in einer Schneekugel. Das wird nicht immer so sein, sagt DER ANDERE FUCHS. DER EINE FUCHS stimmt zu, kann aber auch nicht weghören. Dabei ist nicht klar, ob der Fuchs in seiner Welt etwas hören kann. Aber ist seine Welt nicht auch ihre Welt? Seine Welt ist eine Kugel. Es gibt so viele mittlerweile, beschwert sich der eine Fuchs und schaut gemeinsam mit dem anderen Fuchs fasziniert zu, wie Schneeflocken in der Kugel fallen. Und fallen. Und fallen. Und fallen. Und der eine Fuchs seufzt. Der andere auch. Und die Zeit vergeht. Viel Zeit. Bis der Fuchs wieder auftaucht. Und mit ihm die Angst. Die Angst vor Schnee. Die Angst, dass es auch hier schneien könnte. Die Angst, dass es nicht mehr wie früher ist. Die Angst, vor dem eigenen Spiegelbild. Die Angst vor Veränderung. Die Angst, dass es zu spät sein könnte. Die Angst, dass die eigene Welt einen Riss bekommt.
Julia Herrgesell schafft mit FÜCHSE eine Parabel über die Angst. Und die Flüchtigkeit von Hoffnung. Denn wenn die Welt einen Riss bekommt, kann der Fuchs wieder atmen und die anderen atmen auf, weil sie jetzt die Angst zurückhaben. Und wenn der Druck zu groß wird, ist es doch besser gemeinsam auf die Flut zu hoffen.
Die beiden Staatspreise für dramatische Kinder- und Jugendliteratur werden alle zwei Jahre vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vergeben. Das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland ist mit der Durchführung des Auswahlverfahrens und der Preisverleihung beauftragt, die am 22. November 2024 in Frankfurt am Main erfolgt.