Treffen der AG Musiktheater für junges Publikum der ASSITEJ am 26. und 27. Oktober 2024 am JOiN (Junge Oper im Nord) in Stuttgart
Ein Blogbeitrag von Christiane Plank-Baldauf
Die Frage wie man Theater und Opernhäuser jungen Zuschauer*innen unterschiedlichen Alters und Herkunft zugänglich macht beschäftigt die Theatermacher*innen schon seit vielen Jahren. Musikalische Formate erweisen sich hier besonders geeignet, da sie oft mit nur einem geringen Sprachabteil auskommen. Im Rahmen der AG Musiktheater standen theatrale Praxen zur Diskussion, die sich mit kulturellem Dialog und Anerkennung beschäftigten: Ausgehend von „مرحبا بالأزرق – Hallo Blau“, einem szenischen Konzert für Menschen ab 3 Jahren am Stuttgarter JOiN diskutierten Theatermacher*innen aus unterschiedlichen (institutionellen) Kontexten aus ganz Deutschland und der Schweiz mit den Produktionsbeteiligten über die Frage, wie verschiedene Kulturen in der gemeinsamen Arbeit zu einem künstlerischen Ergebnis finden, das die verschiedenen Instrumenten und Traditionen in einen Dialog bringt. Wie die beiden Musiker*innen Ying-Chen Chuang (Schlagwerk) und Adam A’asi (Oud) beschrieben, ging es im Entstehungsprozess darum, die unterschiedlichen Spielweisen und Klangfarben der Instrumente zu zeigen und nach künstlerisch-interessanten Lösungen zu suchen, in denen sich die zeitgenössische Musizierpraxis der Schlagzeugerin mit der arabischen Musiktradition des Oud-Spielers verbinden ließen: Wie z.B. kann mit der unterschiedlichen Klanglichkeit und Strukturierung von arabischer Musik und europäischer Musik umgegangen werden? Wie bringt man das tonal ausgerichtete Vibraphon mit der Mikrotonalität der Oud ins gemeinsame Musizieren.
Diese Annäherung der Musiker*innen erfolgte v.a. über Improvisationen zu den deutsch-arabischen Texten von Martin Mutschler und dem syrischen Lyriker Aref Hamza. Bei der Arbeit an den Texten, reagierten die Autoren gegenseitig auf ihre Entwürfe, an denen sie – nach einem jeweils eingeschobenen Übersetzungsvorgang – weiterarbeiteten. Entstanden ist eine Textvorlage, die eine klare Struktur für den musikalischen Entwicklungsprozess vorgab, deren poetische Qualität aber fließende Übergänge zwischen Text, (Sprach-)klang und Bildern zuließ. Die von beiden Autoren eingesprochenen Texte wurden über Lautsprecher hinter den Sitzkissenreihen des Publikums zugespielt. Die verschiedenen Sprach- und Stimmqualitäten sowie die Projektionen auf Wände und Decke des JOiN eröffnen dem Publikum eine atmosphärische, beinahe immersive Raumerfahrung.
Im Rahmen des Arbeitstreffens wurden weitere Projekte vorgestellt und diskutiert, die sich mit der Annäherung von Kulturen beschäftigen. Im Fall von zweieinander, einer Produktion des Staatstheaters Mainz aus dem Jahr 2015 (gefördert vom Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes), wurde eine Partner-Kita zu einem Arbeitsraum.
Hier forschten die beiden Musiker Johannes Stange (Trompete), Joss Turnbull (Tombak) danach, wie man beim Musizieren Nähe und Augenhöhe zum Publikum herstellen kann. Entstanden ist ein Stück über das Verhältnis von Eigenem und Miteinander und über die Überwindbarkeit von Grenzen. Zusammen mit dem Regisseur Anselm Dalferth untersuchten die Musiker Instrumente, ihre Klanglichkeit sowie Spielhaltungen der Musiker über die sich musikalische und spielerische Kommunikationsvorgänge – im Sinne von Kagels Instrumentalem Theater – erzählen lassen. Dem künstlerischen Team war es ein Anliegen über die Theatralisierung bzw. das Inszenieren von Klangereignissen ein lebendiges Miteinander von Kulturen zu erzählen und sowohl Gemeinsamkeiten von Kulturen, als auch Unterschiede klanglich und szenisch erfahrbar zu machen.
Eine neue Normalität wird keine Konstante sein, sondern ein Prozess, der uns zwingen wird, das kulturelle Erbe immer wieder zu überdenken.
Co-Autor*innen: Aşkın Hayat Doğan, Leyla Ercan, Ilya Kukharenko, Svea Schenkel, Berthold Schneider
Sowohl in مرحبا بالأزرق – Hallo Blau als auch in zweieinander ist nicht die eigene Kultur maßstabsetzend. Vielmehr liegt ein Verständnis von Kultur als einer sozial geteilten Lebenspraxis zugrunde, die andere Lebenswelten einschließt und – im Sinne von Wolfgang Welschs Verständnis von Transkulturalität – auf eine Vernetzung von Kulturen und Individuen hinzielt. Im Rahmen von Stückentwicklungen ist es wesentlich leichter, Kulturen in einen fruchtbaren Austausch zu bringen. Im Umgang mit dem kulturellen Erbe lässt sich im aktuellen Musiktheaterbetrieb noch eine große Unsicherheit feststellen, wie Exotizismen vermieden, und stereotype Rollenbilder und Geschlechterordnungen aufgebrochen werden können: Textliche und musikalische Überschreibungen, sowie das Aufbrechen der, laut Partitur festgelegten Stimmfächer (z. B. durch Crossdressing) bilden derzeit im institutionalisierten Stadt- und Staatstheater die Ausnahme. Ein aktualisierender Zugriff erfolgt in einem, schwerpunktmäßig auf historische Repertoirewerke fokussierten Opernbetrieb meist nur auf Inszenierungsebene. An diesem Punkt setzt Berthold Schneider mit seinem Team von Critical Classics (http://criticalclassics.org) an, indem er mit einer textlichen Neufassung von Mozarts Die Zauberflöte erstmals eine diskriminierungssensible Lesart vorlegt, die allen kostenlos zugänglich ist. Unterstützt vom Landesmusikrat NRW erarbeiteten Leyla Ercan (Expertin für Diversity), Aşkın-Hayat Doğan (Sensitivity Reader) sowie ein erweiterter Kreis von Menschen in verschiedenen Positionen und mit unterschiedlichen Perspektiven eine Neuedition auf Grundlage der Bärenreiter Urtext-Ausgabe. Diese soll zum einen das Bewusstsein für diskriminierende Sprache wecken und Vorschläge für einen angemessenen Umgang mit derselben geben. Alle Änderungen sind, ähnlich eines kritischen Kommentars, in einer eigenen Spalte notiert und verstehen sich als Vorschläge, die dazu einladen, sich mit den Inhalten und Texten der Zauberflöte zu beschäftigen und zu diskutieren. Da in der Theaterpraxis oft die Zeit und das nötige Geld fehlt sich mit diesen Themen umfassend auseinanderzusetzen, stellt Critical Classics ein wichtiges Arbeitstool für die Vorbereitung dar, das dazu anregen will eigene Lösungen zu finden.
Was passiert mit der europäischen Oper, wenn die Sexualisierten, Exotisierten, die Abgewerteten, die Andersgemachten, über die seit Jahrhunderten phantasiert, erzählt und gesungen wird, nun im Aufführungsraum als ermächtigte Subjekte präsent sind?
Co-Autor*innen: Aşkın Hayat Doğan, Leyla Ercan, Ilya Kukharenko, Svea Schenkel, Berthold Schneider
Die Herausgeber*innen begreifen ihre Arbeit als Teil einer lebendigen Theaterpraxis. Ihnen geht es nicht darum, Handlungen inhaltlich zu reduzieren, sondern v.a. sprachliche Diskriminierung, die das Publikum betrifft, zu vermeiden. Autor*innen bzw. Komponist*innen haben ihre Werke immer an die jeweiligen Aufführungsbedingungen sowie an die Hör- und Seherwartungen des Publikums angepasst. Auch wenn sich Regisseur*innen seit den 60erJahren bemühen in ihren Opern-Inszenierungen aktuelle Bezüge herzustellen, geht es heutzutage darum, mit jeder Neu-Inszenierung ein Angebot zu machen, bei dem sich alle Personen im Publikum auf der sprachlich-inhaltlichen und nicht nur auf der musikalischen Ebene angesprochen fühlen.

Hier liegt eine große Chance im Jungen Musiktheater, das die Bedürfnisse seiner Zielgruppe im Blick hat. Da die meisten Produktionen neu komponiert werden, können aktuelle Fragen thematisiert, sowie machtkritische Perspektiven auf Figuren, deren Handlungsmacht, Beziehungen und Sprechakte gerichtet – allesamt Themenbereiche, die allerdings auch auf Ebene der szenischen Umsetzung reflektiert werden müssen.
Daran anschließend formulierten die Teilnehmer*innen zahlreiche To-Dos, die derzeit Hürden und Herausforderungen in der diskriminierungskritischen Theaterpraxis darstellen:
- Intendanzen für die Bedürfnisse, Sichtweisen und Rezeptionsweisen eines jungen und diversen Publikums sensibilisieren und Oper als ein dynamisches und zeitverhaftetes Medium begreifen, das auf der Textebene beim jungen Publikum zunehmend Widerstand erzeugt.
- Vermittlungsarbeit bereits von Anbeginn in jeden Neuproduktions- und Kompositionsprozess einbeziehen.
- Verbündete finden, Perspektiven erweitern und Menschen aus bisher marginalisierten Gruppen ins Team holen
- Fortbildungen und Expert*innen zu den Themen diskriminierungssensible Sprache, Intimacy Coaching, Sensitivity Reading etc. für das eigene Team (Dramaturgie, Vermittlung, Öffentlichkeitsarbeit) initiieren.
- Präventiv arbeiten und keine (weiteren) unvermittelbaren Werke schaffen.
Weitere Treffen der AG Musiktheater für die kommenden Jahre wurden vereinbart. Das Treffen am JOiN markiert den Ausgangspunkt einer Diskussion, die in der AG Musiktheater für junges Publikum weitergeführt werden soll.
