Ist das Theater eine kulturelle Institution, in der sich überwiegend gutsituierte biodeutsche Familien mit bildungsbürgerlichem Hintergrund treffen? Findet sich in den Zuschauerräumen des Kinder- und Jugendtheaters nicht längst die gesamte Bandbreite der Gesellschaft? Was muss anders gemacht werden, damit Theater selbstverständlich als Begegnungsort für BürgerInnen unterschiedlicher Generationen, Schichten und kultureller Wurzeln erlebt wird?
Wir freuen uns über einen Gastbeitrag von Andrea Gronemeyer:
„Anläßlich einer Podiumsdiskussion zum Thema „Wie grenzenlos ist Kunst“ schreckte mich die Migrationsforscherin und Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi mit der provokanten These auf, das deutsche Stadttheater sei strukturell rassistisch. Sowohl auf der Bühne als auch hinter den Kulissen seien People of colour deutlich unterrepräsentiert. Wenn überhaupt, dann träten sie nicht als Hamlet oder Maria Stuart – also protagonistisch – in Erscheinung sondern als Repräsentanten der Migranten, der Fremden, der Antagonisten. In Intendanzen und Dramaturgien spielten sie keine Rolle, da sei es auch kein Wunder, wenn ihre Lebenswelten und Perspektiven nur da thematisiert werden, wo sie mit denen der Mehrheitsgesellschaft kollidierten und folglich nicht als Mehrwert für die Gesellschaft erfahrbar würden.
Kein motivierendes Attest für die deutsche Theaterszene und vielleicht so pauschal auch nicht ganz richtig, denn eine ganze Reihe von Theatern haben inzwischen durchaus Konsequenzen gezogen aus der Erkenntnis, dass sich Deutsche mit Migrationshintergrund zwar für Kunst und Hochkultur interessieren, sich vom Theater aber nur selten angesprochen fühlen. Einige Theater verändern wie die Komische Oper zum Beispiel ihren Service und ihre Marketingstrategie, um migrantisches Publikum gezielter zu interessieren und Zugangsschwellen zu senken. Andere wie das Theater Freiburg investieren in partizipative Projekte, und suchen neue Zuschauer mit ihren Themen direkt in ihren Alltagsräumen auf, um gezielt auch Mitbürger mit Migrationshintergrund zu erreichen.
Das Theater für junges Publikum verfügt bei diesem neuen Trend schon über einen gehörigen Erfahrungsvorsprung. Die Problematisierung von Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung, das Zusammenleben der Kulturen, Mehrsprachigkeit, interreligiöser Dialog, Mythen und Märchen aus aller Welt – das alles sind Themen und Stoffe, die auf den Spielplänen der Kinder- und Jugendtheater seit Jahren und zwar selbstverständlich und zahlreich zu finden sind. Und durch die intensive Zusammenarbeit mit Schulen und Kindergärten, die in Vormittagsvorstellungen den Hauptanteil der Besucher von Kindertheatervorstellungen ausmachen, kann das Theater für junges Publikum stolz darauf verweisen, dass sich in seinen Zuschauerräumen die gesamte Bandbreite der Gesellschaft widerspiegelt. In Großstädten heißt dies, die Hälfte des Publikums hat tatsächlich einen Migrationshintergrund und Wurzeln in sehr unterschiedlichen Kulturen und Sprachen. Diese Realität hat auf die Spielpläne zurückgewirkt, Kinder- und Jugendtheatermacher schon lange vor „Wanderlust“ international und interkulturell vernetzt und vielerorts auch dazu geführt, dass ein Migrationshintergrund einem Engagement am Kinder- und Jugendtheater nicht im Wege stand, ja sogar eher ein Pluspunkt für einen Bewerber am Kinder- und Jugendtheater war.
Gerade weil das so ist, muss sich das Kinder- und Jugendtheater heute kritisch befragen lassen, warum denn diese Arbeit vielleicht doch nicht dazu führt, dass inzwischen mehr Mitbürger mit Migrationshintergrund auch noch als Erwachsene das Theater besuchen. Die einfachste Antwort wäre, dass ein Teil des im Kinder- und Jugendtheater angefixten Publikums im Abendspielplan immer noch nicht das vorfindet, was es am Kinder- und Jugendtheater durchaus erleben konnte: das Thematisieren der eigenen Lebenswelt, multiethnische Stoffe und Präsentationsformen, multiethnische Musik, multiethnischen Tanz oder zumindest eine transkulturelle Weiterentwicklung des deutschen Sprechtheaters, das sich im Abendspielplan selbst in seinen postdramatischen Dekonstruktionen viel zu selbstreferentiell auf Kanon, Formensprache und Rezeptionsgeschichte der urdeutschen Theatergeschichte bezieht. Wenn es auch kaum noch einen Dresscode für das Theaterpublikum gibt, so tragen doch Architektur und Verhaltensregeln für Zuschauer dazu bei, dass die Stadttheater eher wie feste Burgen einer Gesellschaftsschicht, die unter sich bleiben will, wirken als wie einladende Begegnungsforen für Bürger unterschiedlicher Generationen, Schichten und kultureller Wurzeln.
Aber ganz so einfach dürfen es sich Kinder- und Jugendtheatermacher nicht machen. Im Editorial des Schwerpunkthefts „Migration“ (02/12) der Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendtheater IXYPSYLONZETT zitiert Wolfgang Schneider den 17-jährigen Mourad R. mit dem Satz „Ich gehe sehr ungern ins Theater“, das er als eine „nervende Pflichtveranstaltung“ im Schulkurrikulum empfindet. Vielleicht war er ja nicht in einem Kinder- und Jugendtheater. Tatsache ist jedoch, dass sich zwar in dessen Schulvorstellungen die gesamte Bandbreite der Bevölkerung einfindet, die sogenannten Familienvorstellungen am Wochenende auch in den Kinder- und Jugendtheatern eher von den üblichen Verdächtigen, das heißt den gleichen gutsituierten biodeutschen Familien mit bildungsbürgerlichem Hintergrund besucht werden, die man auch im Abendspielplan antrifft.
Also sollten auch die Kinder-und Jugendtheater ihre Bemühungen deutlich verstärken, Familienpublikum und unabhängige Jugendliche als Zuschauer zu interessieren, denn alle Studien belegen, dass erst eigenständige kulturelle Praxis, die oft dem Vorbild der Eltern folgt, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Kunst und Kulturinstitutionen eröffnet.
Was muss geschehen, damit sich die Theater nicht nur öffnen, sondern dass sich die anvisierten Zielgruppen für ihre Angebote auch interessieren? Ich sehe eine Chance in der Besinnung auf die spezifischen Qualitäten des Theaters als Ort der Begegnung und der Theaterkunst als Medium der Kommunikation und der Partizipation. Eine ausdifferenzierte Gesellschaft wie unsere braucht mehr denn je Foren interessefreien Austausches, in denen wir uns bei aller Diversität über gemeinsame Werte verständigen können. Wenn wir Theatermacher uns dabei nicht exklusiv um spezifische Besuchergruppen bemühen, sondern unsere vornehmste Aufgabe darin sehen, der Diversität unseres Publikums Rechnung zu tragen und ausdrücklich Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammenzubringen, dann ist schon ein wichtiger Schritt getan. Wer trifft also wen im Theater und kommt wie und worüber miteinander ins Gespräch, ist eine wichtige Frage für die Zukunft des Theaters. Dass wir weiterhin unseren Begriff vom kulturellen Erbe deutlich erweitern, unsere Ensembles nach neuen Kriterien zusammenstellen und neue Konzepte künstlerischer Partizipation von Laien und kultureller Bildung entwickeln, hilft dieses Vorhaben mit konkreten Veränderungen strukturell umzusetzen. Die größere Herausforderung bleibt, die Beschäftigung mit dem eigenen Publikum und dessen Bedürfnissen nicht als Einschränkung künstlerischer Arbeit zu missachten sondern im Gegenteil aus dieser künstlerische Inspiration zu beziehen.
Eine selbstkritische Auseinandersetzung der Theatermacher mit ihrem eigenen Rassismus und ihren Ausgrenzungsstrategien kann ein dafür wertvoller Anfang sein. Danke Frau Sharifi.“
Vielen Dank, liebe Andrea!
Azadeh Sharifi hat sich 2014 im Auftrag des Festivals Westwind mit den Aktivitäten der Kinder- und Jugendtheater in NRW befasst.
Ihre lesenswerte Bestandsaufnahme mit konkreten Handlungsempfehlungen (Forderungskatalog S.16/17) ist hier zu finden:
Klicke, um auf Westwind_Sharifi_Studie.pdf zuzugreifen
Weitere Informationen zu Westwind 2014 und der Diskussion rund um die Bestandsaufnahme sind hier zu finden: http://2014.westwind-festival.de/index.php