von Kristo Šagor
Früher bin ich nie während einer Theatervorstellung gegangen. Egal, wie sehr ich mich langweilte. Dies geschah aus der ebenso braven wie gegen mich selbst strengen Annahme: Sowas tut man doch nicht! Ist doof für die Darsteller, aber auch doof für das Medium. Ich mag Theater doch. Es geschah aber auch aus Scham: Wie sieht das denn aus? Sollte besser keiner mitkriegen. Aber vor allem habe ich mich einfach nie genug geärgert oder gelangweilt, um unbedingt gehen zu wollen. Immer lernte ich etwas Neues über mich selbst. Mich selbst in meiner Langweile oder Verärgerung beobachten: Warum ist diese Szene blöder oder erträglicher als die davor? Was sind meine Kriterien, und welches hänge ich wie hoch?
Irgendwann musste ich mir dann zum ersten Mal einen Theaterabend anschauen, obwohl ich gerade gar nicht wollte. Um das Ensemble spielen zu sehen. Oder um den Raum zu begutachten. Oder die Arbeit einer Bühnenbildnerin, die mir empfohlen worden war. Können ist gut – müssen ist schlecht. Schlafen oder essen können ist Entspannung, Luxus, Freiheit. Schlafen müssen heißt, ich bin krank, oder Mama und Papa sind doof. Essen müssen heißt Fresssucht oder, Refrain, Mama und Papa sind doof. Plötzlich musste ich Theater sehen. Obwohl ich gerade gar keine Lust auf „Romeo und Julia“ hatte. Oder darauf, am eigentlich freien Abend im Berufsmodus zu sein. Oder überhaupt so lange stillzusitzen. Extrinsische Motivation korrumpiert die intrinsische Motivation.
Und irgendwann saß ich in einer Vorstellung auf einem Festival. In der zweiten Reihe, ganz in der Mitte. Ich kannte den Text und wusste nach einer halben Stunde, wie sehr mich die Inszenierung ärgerte. Wie unangemessen ich es fand, die grundzynische und obendrein klischierte Stückvorlage mit derart zauberhaften Darstellern zu beglaubigen. Wäre ich gegangen, hätte das ein Riesenbuhei gemacht, und ich hätte mich vielfach rechtfertigen müssen. Nahm ich zumindest an.
Ich blieb sitzen. Und kam mir elend und unmutig vor.
Bevor ich es das erste Mal früher aus einer Theatervorstellung ging, hatte ich es im Kino schon zweimal getan. Aber das war beide Male ein Kompliment. Ich habe Dancer in the Dark und Dogville, gleich zweimal Lars von Trier, schlicht nicht ertragen: Maximal sympathische Frauenfiguren werden zu Opfern gemacht, radikal erniedrigt und (einmal ganz, einmal fast) zerstört. Der empathische Overkill. Mein erstes Mal im Theater hatte ich Kopfschmerzen. Da war es moralisch einfacher zu gehen. Die Regie erschreckte im Fünf-bis-zehn-Minuten-Takt mit unvorhersehbaren, viel zu lauten, viel zu schrillen Elektro-Sounds, und die Spielweise und Ästhetik der Inszenierung fand ich entsetzlich.
Inzwischen gehe ich häufiger früher. Mit Begleitung gehen ist einfacher. Partners in crime. Nach der Pause einfach nicht wiederkommen ist viel einfacher. Zum Beispiel bei Castorfs Faust, zumal die große Szene zwischen Martin Wuttke und Sophie Rois, von der mir ein Kollege vorgeschwärmt hatte, schon in der ersten Hälfte vorkam.
Aber mit der Begleitung nach der Pause nicht wiederkommen ist am besten. Partners in crime in einem netten Restaurant oder bei einem entspannten Spaziergang, während die ehemaligen Leidensgenoss*innen sich noch immer langweilen oder ärgern oder beides. So sie den Abend überhaupt so doof finden wie ich.
Ich verbringe im Theaterraum Lebenszeit. Klar, ist das doof für die an der Produktion Beteiligten, wenn einer eher geht. Einer weniger, der klatscht. Einer weniger, der am Ende schaut, wie sie sich verbeugen. Ich mache es mir auch immer noch schwer: ‚Muss‘ das wirklich sein? Wie ist die Raumstruktur? Wie gut sichtbar für die auf der Bühne? Wie sichtbar bin ich die anderen im Zuschauerraum? Je besser die anderen mich sehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass mein Handeln nachgeahmt wird. Aber will ich mich wirklich auf den Theater-Funktionär reduzieren lassen, der Vorbildcharakter haben sollte für die ‚richtigen‘ Zuschauern? Kenne ich keinen der Beteiligten, bin ich niemandem Rechenschaft schuldig. Nur mir.
Als erster Zuschauer bin ich noch nie aus einer Theatervorstellung rausgegangen.
Kristo Šagor ist Autor und Regisseur. Er studierte Neuere Deutsche Literatur, Theaterwissenschaften und Linguistik an der Freien Universität Berlin und am Trinity College Dublin. Während seines Studiums entstand sein Stück Dreier ohne Simone, das 1999 uraufgeführt wurde. Sein Regiedebüt feierte Kristo Šagor 2002 mit Durstige Vögel am Volkstheater München. Von 2002 bis 2004 war er Hausautor am Theater Bremen. Es folgten Regiearbeiten an zahlreichen Theatern in Deutschland, unter anderem am Staatstheater Hannover, am Staatstheater Stuttgart und am Staatstheater Saarbrücken. In der Spielzeit 2008/09 war Kristo Šagor künstlerischer Leiter des Theater unter Tage (heute: Oval office) am Schauspielhaus Bochum. Seine letzten Stationen als Regisseur waren das Next Liberty in Graz, das Junge Schauspielhaus Düsseldorf und das Junge Deutschen Theater Berlin, seine letzten Uraufführungen Ich lieb dich an der Schauburg München und Iason am Jungen Staatstheater Braunschweig, beide 2018. Für seine Stücke und Inszenierungen erhielt er zahlreiche Preise und Nominierungen. Kristo Šagor gibt Workshops und Seminare. Er lebt in Berlin.