Mauerfälle. Eindrücke aus „Directors in TYA – An International Exchange“

von Carina Eberle


2. bis 9. Juni 2019, Theater Strahl, Berlin
Die Luft glüht. Wir stehen vor einer Wand im Grünen, in die quadratische Fotografien eingelassen sind. Schwarzweiße Portraits. „Der Mann auf diesem Foto hat versucht, Ostberlin in einem Ballon zu verlassen. Nach einem langen Jahr der Vorbereitungen und der Verhaftung seiner Frau flog er los. Überquerte erst die Mauer, dann das nächtliche Westberlin. Da kam die nächste Mauer in Sicht, dahinter lag Ostdeutschland. Der Ballon ließ sich nicht stoppen, der Mann stürzte ab, der Mann starb.“ So erzählt es die Historikerin, die uns über das Gelände der Stiftung Mauerpark an der Bernauer Straße führt. Die Sonne scheint hitzig, es gibt kaum Schatten auf dem Gelände, außer unter den Regenschirmen, die manche Besucher*innen aufgespannt haben. Auf den Schirmen steht „Berlin“.

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Foto: Gudrun Arndt / Theater Strahl

Unsere Gruppe ist groß: 27 Regisseur*innen aus aller Welt, dazu die Vertreterinnen der ASSITEJ Deutschland und unseres Gastgebertheaters, dem Theater Strahl. Eine Woche verbringen wir anlässlich des Directors in TYA – An International Exchange zusammen in der deutschen Hauptstadt. Unsere Gemeinsamkeit ist das „Theatre for Young Audience“, kurz TYA. Wir alle machen Theater mit oder für Kinder und Jugendliche und kommen darüber schnell ins Gespräch. Unser erstes gemeinsames Mittagessen verzehren wir im Restaurant Tempo Box. Dieser Name ist Programm für die temporeiche Woche, die vor uns liegt: Theaterbesuche, Diskussionen, Workshop-Einheiten und Ausflüge füllen unseren dichten Zeitplan. Unser Thema sind „walls“. Mauern und Wände.

Unsere eigenen vier Wände sind der Ausgangspunkt für eine erste Vorstellungsrunde. Jede*r hat ein Objekt oder ein Bild mitgebracht, das zu Hause die Wohnungswände ziert. Der Boden vor uns füllt sich mit Musikinstrumenten aus Lettland, Fotografien aus Argentinien und einer bosnischen Espressotasse, bedruckt mit dem vierjährigen Gesicht einer der Teilnehmerinnen. Gemeinsam reisen wir durch die Stadt, suchen Schatten unter Regenschirmen im Mauerpark und stellen im Abgeordnetenhaus unsere Theaterarbeiten vor. Dazu gibt es Haribo-Schlümpfe.

Fast jeden Tag sehen wir ein Theaterstück oder eine Performance in einem der  zahlreichen Berliner Theater. Im Theater o.N. erleben wir Future Beats, eine Musiktheaterproduktion für Babys. Der Klang selbstgebauter Instrumente versetzt uns in einen regenbogenfarbenen und metallisch schimmernden Tag-Nacht-Traum. Wir sehen die Derniere des schrillen Three Billion Sisters in der Volksbühne, feiern mit dem GRIPS Theater dessen 50. Geburtstag und sind bewegt von der differenzierten und dynamischen Darstellung des Einflusses der Berliner Mauer auf die Stadtbewohner*innen in #BerlinBerlin im Theater Strahl.

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Foto: Gudrun Arndt / Theater Strahl

Die erlebten Stücke dienen als Impulsgeber für den Austausch über sehr grundlegende Fragen: Was ist Theater eigentlich? Gibt es Grenzen zwischen ‚klassischem‘ Theater, Musiktheater und Tanz? Oder sind die Übergänge vielmehr fließend und eine Unterscheidung irrelevant für die Entwicklung und Rezeption einer Performance? Was für Arten von Dramaturgie gibt es und welche Rolle spielen Sprache und Text dabei? Was bedeutet es, Theater für junges Publikum zu machen? Schnell wird klar, dass unsere Theaterauffassungen und -ästhetiken ebenso unterschiedlich sind wie die Objekte vor uns auf dem Fußboden. Diese Verschiedenheit macht die Woche so wirkmächtig und erweitert den eigenen Horizont enorm.

Die Räume im backsteinernen Tagungsgebäude, das zu unserer Jugendherberge gehört, sind nach deutschen Bundesländern und Städten benannt. In drei Kleingruppen arbeiten wir dort, neben den Theaterbesuchen und Ausflügen in die Stadt, jeden Tag für einige Stunden in Workshop-Einheiten intensiv zusammen. Meine Gruppe trifft sich in Rheinland-Pfalz. Ein Stockwerk über uns liegt Detmold. Unser Arbeitsauftrag ist sehr offen formuliert, David Gruschka aus Münster wird ihn später als „Nicht-Auftrag“ beschreiben. Thema: walls. Workshop-Einheiten: sieben. Ende: offen. In Rheinland-Pfalz arbeiten Kolleg*innen aus Neuseeland, Botswana, Russland, Israel, Bolivien, Iran, Österreich und Deutschland. Am Ende der Woche wird ein Sharing in der großen Runde stattfinden (bevor Espressotassen, Musikinstrumente und Fotos zurückgegeben werden): wir können dort etwas präsentieren, müssen aber nicht und nichts. Wie es uns gefällt.

Der „Nicht-Auftrag“ führt in Rheinland-Pfalz dazu, dass immer wieder neue Impulse von verschiedenen Seiten kommen. Wir probieren  theaterpraktische Methoden aus, um Material zu generieren, sprechen über Mauern und Wände im philosophischen und ganz praktischen Sinn, schreiben gemeinsam Texte und hören Musik. In der Zusammenarbeit wird auch deutlich, wie unterschiedlich der Beruf „Regisseur*in“ interpretiert werden kann und welche Spielräume und Schwierigkeiten sich dadurch in einer kollektiven Arbeitssituation ergeben.

Durch unsere verschiedenen kulturellen und künstlerischen Hintergründe eröffnet sich ein einzigartiger Raum für unsere Zusammenarbeit. Wir brainstormen zu 1989: Der erste Krieg zwischen Iran und Irak ist zu Ende. Die erste Loveparade findet in Berlin statt. Die Mauer fällt in Europa. In Tel Aviv wird ein Terroranschlag auf einen Linienbus verübt. Wir diskutieren politische Zusammenhänge und Produktionsbedingungen, Strategien, die in anderen Ländern entwickelt werden müssen, um Vorurteile und Zensur zu umgehen.

Im direkten Austausch wird mir noch klarer, wie wertvoll und schutzbedürftig Meinungs- und Kunstfreiheit sind: Dass wir als Künstler*innen in Deutschland grundsätzlich frei sind, uns mit den Themen zu beschäftigen, die wir für relevant halten. Dass wir einen Text nicht erst dem politischen Apparat vorlegen müssen, um ihn auf der Bühne umsetzen zu dürfen. Dass wir Homosexualität, Diversität und verschiedenste Lebensformen auf der Bühne darstellen können. Dass wir uns kritisch und unabhängig äußern dürfen. Im Moment und hoffentlich auch in Zukunft, ohne mit dem Kopf gegen blaue oder braune Wände anrennen zu müssen.

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Foto: Gudrun Arndt / Theater Strahl

Dann naht das Sharing. Alle Gruppen haben sich für eine Präsentation ihrer Ergebnisse
entschieden. Die erste Gruppe kommuniziert während der Performance von zum Teil sehr persönlichen Geschichten über WhatsApp mit allen anderen, während die zweite Gruppe uns an ihrer Abschlussdiskussion teilhaben lässt. Die restlichen Schlümpfe werden serviert. Wir haben uns für die Installation unseres Materials an verschiedenen Stationen entschieden und führen die anderen mit kleinen Szenen durch unser „Mauermuseum“.

Allen Performances gemeinsam ist die Interaktion mit der Gruppe während der Präsentation. Wir sind zusammengewachsen in diesen acht Tagen. Es ist etwas Neues entstanden. Das Sharing, in dem Persönlichkeiten, Kulturen und die Eindrücke der Woche sich begegnen, ist nur der Anfang davon. Bilder, die sich uns eingebrannt haben in der Frühsommerhitze: Die Mauer in einem Ballon überfliegen wollen und es schaffen.

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