Wir starten heute eine Kooperation der medialen Art: mit freundlicher Genehmigung von Georg Kasch, Kulturjournalist und Leiter der Blogger*innen-Gruppe bei Grenzenlos Kultur vol. 21, re-posten wir hier Beiträge zum Symposium Theater barrierefrei gestalten – be prepared to make mistakes, das vom 20.-21. September 2019 in Mainz stattfand. Danke euch sehr für die Texte!
Habt Kontakt!
Kuratorin Noa Winter im Interview
von Alina Weis
12. September 2019
Das Symposium von Grenzenlos Kultur dreht sich in diesem Jahr um Barrierefreiheit. Warum?
Die Ausgangsidee von Silke Stuck und mir war, dass wir viele behinderte Künstler*innen kennen, die in ihrem Arbeiten regelmäßig mit dem Thema Barrierefreiheit konfrontiert sind, weil es Teil ihres Lebens ist und damit auch Teil ihres Arbeitslebens. Zusammen mit diesen Expert*innen richten wir uns an die Stadt- und Staatstheater als auch an die freien Produktionshäuser, um sie für Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Als behinderter Mensch fühle ich mich in Theatern oft gar nicht willkommen, wenn ich z. B. nicht reinkomme oder nicht verstehe, was auf der Bühne passiert, weil es keine Übersetzung in Gebärdensprache gibt. Die Frage ist: Wie kriegt man einen Zugang zu Kunst?
Ja, wie?
Herzstück des Symposiums sind unsere fünf Workshops, die unterschiedliche Arten von Barrierefreiheit thematisieren. Natürlich sprechen wir über Rollstuhlzugänglichkeit, mit der Schauspielerin Jana Zöll als Expertin. Dann haben wir einen Workshop vom Schauspiel Leipzig, das seit sehr vielen Jahren Audiodeskription anbietet, also eine Unterstützung für sehbehinderte und blinde Menschen, in der das Geschehen auf der Bühne beschrieben wird. Außerdem gibt es je einen Workshop zu Einfacher Sprache und Gebärdensprache. Undwir haben Jess Thom, die im vergangenen Jahr mit „Not I“ bei Grenzenlos Kultur war und mit ihrer Relaxed Performance für ziemlich viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Das wollen wir jetzt vertiefen.
Barrierefreiheit hat ja nicht nur eine körperlich-technische Seite, sondern ist auch ein Denkmuster in den Köpfen.
Auf jeden Fall! Natürlich gibt es bauliche Barrieren. Aber ich erinnere mich an mein erstes Jahr beim Festival vor fünf Jahren, als ich nach einer Vorstellung zufällig mitgehört habe, wie nicht-behinderte Menschen im Publikum sich nach der Vorstellung darüber unterhielten, dass das jetzt schon anstrengend war, dass da auch behinderte Menschen im Publikum waren. Es waren nicht mal viele, ein paar Künstler*innen, die am nächsten Abend gespielt haben und sich die Vorstellung angesehen und sich nicht genau so verhalten haben, wie sich das Mainzer Abonnement-Publikum das vielleicht gewünscht hätte. Deswegen finde ich es wichtig, auch ein behindertes Publikum zu generieren.
Wie lassen sich diese Barrieren in den Köpfen einreißen?
Indem man behinderte Künstler*innen auf der Bühne sieht. Vor allem aber über den näheren Kontakt, also wenn zum Beispiel Personen neben einem im Publikum sitzen. Und klar, da ist noch total viel zu tun! Das ist ja nicht nur ein Theater-Ding, sondern hat viel damit zu tun, dass behinderte Menschen nicht selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sind – in allen Bereichen.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich habe dieses Semester hier an der Johannes Gutenberg-Universität ein Seminar zu Behinderung und Theater gegeben. Zu Beginn habe ich meine Studierenden gefragt, wer regelmäßig Kontakt zu behinderten Menschen hat – weniger als die Hälfte. Und das ist nicht ungewöhnlich! Eine weitere Barriere besteht darin, dass viele Menschen denken, dass sich behinderte Menschen – insbesondere Menschen mit Lernbehinderung – nicht für Theater interessieren. Oder dass sich eine blinde Person nicht für ein Tanzstück interessieren kann. Das sind Vorannahmen, die Ausschlüsse produzieren, die nicht sein müssen.
Sind diese Akte der Bevormundung, auch des Mitleids, eine Barriere?
Na klar! Wenn eine Person gar nicht erst gefragt wird, ob sie ins Theater mitkommen oder Teil eines Spielklubs sein möchte, dann werden da Entscheidungen getroffen, die weitreichende Konsequenzen haben. Apropos Mitleid: Oft werden bei Menschen mit Behinderung andere Maßstäbe gesetzt, ihre künstlerische Arbeit gleich als etwas Besonderes angesehen. Niemand würde zu uns sagen: „Oh, wie besonders und schön ist es, dass du abends ins Theater gehst oder dass du einen Schauspielkurs besuchst.“ Künstler*innen wünschen sich ehrliche Kritik für ihre Arbeit. Viel zu selten geht es in Kritiken darum, dass da Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, die Theater machen, das ich genauso kritisieren kann wie bei nicht-behinderten Schauspieler*innen. Stattdessen wird das Besondere betont, das in seiner Kritiklosigkeit ja auch etwas Voyeurhaftes hat: „Oh, da sind Menschen mit Behinderung auf der Bühne.“ Den künstlerischen Arbeiten wird das nicht gerecht.
Ab wann fängt eigentlich eine Behinderung an und wann hört „normal sein“ auf?
Das ist die Frage. Behinderung hängt an gesellschaftlichen Normen. Deswegen wollen sich zum Beispiel viele taube Menschen ungern als behindert bezeichnen lassen, weil sie sagen: Wir sind nicht behindert, wir haben einfach nur eine andere Sprache, die Gebärdensprache. Es geht weniger um ein Behindert-Sein, darum, wie der Körper einer Person ist oder was für medizinische Diagnosen diese Person hat. Sondern es geht ganz stark um das Behindert-Werden durch die Gesellschaft. Und da spielt alles das rein worüber wir gesprochen haben: bauliche Barrieren, aber auch die ganzen Vorurteile, die es Menschen nicht ermöglichen, Kultur zu erleben und zu gestalten oder einen bestimmten Beruf wahrzunehmen. Da muss sich noch viel ändern! Und deshalb gibt es unser Symposium.
Fehler machen erlaubt
von Neele Jahnig
23. September 2019
Was bedeutet Behinderung? Was sind Barrieren? Und wie kann das Theater offener für alle Besucher*innen werden?
Diese Frage stellte das zweitägige Symposium in zwei Vorträgen, Workshops und einem Speeddating mit Expert*innen. Die wohl wichtigste Aussage, die sich durch die Veranstaltung zog: Es in Ordnung Fehler zu machen. Nur aus Fehlern lässt sich lernen. Auch Silke Stuck und Noa Winter, die beiden Organisatorinnen des Symposiums, gestehen bei der Eröffnung, dass sie beim diesjährigen Festival, das so barrierearm war wie noch nie, nicht an alles gedacht hatten. Zum Beispiel war die relaxed area in der Aufführung von Chinchilla Arschloch, waswas nicht barrierefrei, was sich erst kurz vor Vorstellungsbeginn herausstellte, als ein Rollstuhlfahrer eine Karte für diesen Bereich ganz vorne im Saal hatte, aber wegen mehrerer Stufen nicht hinkommen konnte. Immerhin ließ sich schnell ein Ersatzplatz organisieren.
Das Symposium fand zum Großteil in den Räumen der Volkshochschule Mainz statt. Selbstverständlich wurde auf einen barrierearmen Zugang geachtet. Dass hier jeder willkommen ist, wird deutlich, weil die relaxing area ein entspanntes Verweilen ermöglicht und alle Gespräche in Englisch, Leichte Sprache und Deutsche Gebärdensprache simultanübersetzt werden.
Die Veranstaltung ist gut besucht, alle Plätze sind belegt, es gibt eine Warteliste. In den Vorstellungsrunden während der Workshops wird klar, dass Expert*innen, Interessierte und Theatermacher*innen aus ganz Deutschland angereist sind um dazuzulernen. Offensichtlich hat ein Umdenken im Theater begonnen.
Weil der Vortrag von Judyta Smykowski darüber, wie über Menschen mit Behinderung in den Medien gesprochen wird, wegen Krankheit ausfiel, füllte Noa Winter die Lücke mit einer allgemeineren Einführung zum Thema Behinderung und zu Formulierungs-Fettnäpfchen. Jo Verrent fragt in ihrem Vortrag danach, was wäre, wenn es keine Barrieren mehr gäbe. Sie berichtet vom kreativen Potential behinderter Künstler*innen, das durch mehr Diversität entsteht und sichtbar wird.
Die Workshops – über zugängliches Theater, taube Dramaturgien, Audiodeskription, Leichte Sprache und relaxed performances – begeistern mit vertiefenden Informationen zu den beiden Vorträgen. Die Fragen, die bei den Zuhörer*innen entweder neu entstanden oder noch offen geblieben sind, werden von den Expert*innen während des Speeddatings mit viel Freude und Geduld beantwortet.
Gute Gespräche und reger Austausch finden bei Kaffee und kleinen Leckereien zwischen allen Besuchern auch im Foyer oder vor der Tür in der Sonne statt. Wer am Anfang noch ein bisschen schüchtern war, wird durch die herzliche und fröhliche Stimmung während des Symposiums immer mutiger, auf andere zuzugehen und Workshop-Diskussionen zu vertiefen.
Beim Abschluss des diesjährigen Symposiums wird deutlich, dass der Informationsaustausch in großer Runde ein voller Erfolg war. Alles neu gelernte findet in naher Zukunft damit hoffentlich Einzug an den Stadt- und Staatstheatern Deutschlands und vielleicht sogar darüber hinaus.