Camilla Schlie: „Komplexe Geschlechtskonstruktionen sind Normalität“

Wir freuen uns, wenn Artikel auf KJTZ – Das Blog zu Fachdiskussionen anregen. Camilla Schlie und Clemens Leander haben vor wenigen Wochen bei der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft ein „Plädoyer für unpopuläre Geschlechterkonstruktionen im Kinder- und Jugendtheater“ gehalten, das im PDF der Zeitschrift der dramaturgischen Gesellschaft nachzulesen ist (KLICK).

In einem Gastbeitrag bezieht sich Camilla Schlie heute auf unseren Blogbeitrag „Mehr Genderkompetenz im Theater“ vom 10.2.2015:

„Kirsten Hartung beschreibt im Beitrag „Zwischen den Bildern heute“, dass existierende dramatische Texte für junges Publikum mit „spannenden weiblichen Rollen“ ihren Weg nicht in die Spielpläne finden. Im Text „Im Zweifel für den Zweifel“ behaupten C. Leander und ich, wir hätten uns auf die Suche nach solchen Texten begeben und kaum welche gefunden.

Es scheint so, als handele es sich um ein infrastrukturelles Problem. Die Akteur_innen im Feld der dramatischen Literatur (LJP) und des Theaters für junges Publikum (TJP) sind in der Regel „Erwachsene“, die kontroverse Präferenzmodelle bei der Klassifikation von Kinder- und Jugendliteratur-Normen verfolgen. (1)

Welcher Werkaspekt steht jeweils im Vordergrund – der Zweck oder die Angemessenheit oder die Literaturart? So bewegt sich der Diskurs im TJP nicht nur zwischen „Kunst – Unterhaltung“ sondern wird um den Aspekt der „Bildung/Erziehung“ maßgeblich erweitert. Inwiefern wird eine nicht-heteronormative Darstellung von Welt in der LJP/TJP von Vermittler_innen in Gatekeeper-Positionen als „schädlich“ oder „nützlich“ eingestuft?

Es ist zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit Geschlechtskonstruktionen im TJP gerade in interdisziplinären Arbeiten, performativen Formaten und Stückentwicklungen vergleichsweise weiter verbreitet ist, weil die Vermittlung über die Distributions- und Bewertungssysteme der LJP weitgehend entfällt. Hier wäre interessant zu untersuchen, in wieweit solche Produktionen in der freien Szene oder an Stadt- und Staatstheatern produziert werden (vgl. Beitrag von Kirsten Hartung).

Theater.Frauen schreiben, dass Autorinnen im Verhältnis mehr weibliche Figuren in ihren Theatertexten schaffen. Autor_innen wie Jan Friedrich schildern in ihren Arbeiten nicht-heteronormative Lebenswelten (2) ohne aufklärerische oder erzieherische Absicht. Vielseitige und komplexe Geschlechtskonstruktionen sind Normalität und grundsätzlich selbstverständlich. Vor dem Hintergrund meiner Agenda für TJP ist das sehr zu begrüßen. Das Dickicht der erwachsenen Akteur_innen der LJP/TJP ist weiter zu kartieren und den in diesem Feld Agierenden auch widerzuspiegeln.

Letztlich führt das zu der Frage, inwieweit junge Adressat_innen eigentlich zu Wort kommen. Wie steht es mit der literarischen Öffentlichkeit des jungen Theaterpublikums?“

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(1) vgl.: Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2012. Wilhelm Fink Verlag: Paderborn 2012. Kapitel IX. Grundlegende Kinder- und Jugendliteraturnormen, S.135 ff.

(2) vgl.: Meinhard Winkgens „Wirkungsästhetik“ in: Ansgar Nünning (HRSG.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Metzler, Stuttgart 2004, S. 771: „In der durch das Zusammenspiel von Repertoire und Strategien erzeugten Repräsentation einer außertextuellen Realität bezieht sich der Text weder auf kontingente Wirklichkeit schlechthin, sondern auf existierende Sinnsysteme, die im Sinne der Systemtheorie N. Luhmanns ihrerseits Sinn und Ordnung nur durch die „Reduktion von Wirklichkeitskomplexität“ zu generieren vermögen und daher notwendigerweise ihre eigenen Ausschließungen, Begrenzungen und Defizite mit hervorbringen, noch reproduziert er durch Widerspiegelung einfach ihre vertikal stabilisierte lebensweltliche Geltungshierarchie (Lebenswelt).“

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Camilla Schlie Camilla Schlie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim. Bis 2008 war sie Mitglied des Theaterkollektivs Turbo Pascal und nahm dann eine Regie- und Dramaturgieassistenz am Theater im Werftpark Kiel an. 2011-2014 arbeitete sie als Dramaturgin und Theaterpädagogin am Theater an der Parkaue in Berlin.

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