
Heute stellt der Sprecher der Jury für den Deutschen Kindertheaterpreis 2018 und den Deutschen Jugendtheaterpreis 2018, Prof. Dr. Gerd Taube, Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums, die letzten vier Texte aus den Auswahllisten zu beiden Kategorien vor.
„Laura war hier“ (5+)
von Milena Baisch (Deutschland)
Verlag der Autoren, Frankfurt am Main
Laura hat die Kellertür gar nicht offen gelassen. Aber ihre Mutter ist von dem ewig nörgelnden und schimpfenden Hausmeister genervt und verteidigt ihre Tochter nicht gegen seine Vorwürfe. Laura ist gekränkt und beschließt sich eine richtige Familie zu suchen, so eine wie aus der Fernsehwerbung, wo alle glücklich sind und es Pizza für alle gibt. So macht sie sich auf eine Entdeckungsreise durch das Haus und lernt verschiedene Familienmodelle kennen: Familie mit drei Geschwistern, eine Regenbogenfamilie, die allein lebende Oma und Teile der die iranischen Großfamilie. Justin mit den beiden Vätern hat die Idee, sich eine eigene Patchworkfamilie zu basteln und das großes Familienpicknick, das alle am Ende veranstalten wird wegen Regen ins Treppenhaus verlegt. Selbst der böse Hausmeister ist gar nicht so griesgrämig wie er immer tut. Er holt die Diskokugel aus dem Keller und alle feiern den utopischen Moment der Gemeinsamkeit. Das Theaterstück für Kinder mit Liedern von Volker Ludwig verleugnet seine GRIPS Herkunft nicht und ist ein spannendes Roadmovie im Treppenhaus.
„WiLd!“ (8+)
von Evan Placey (Großbritannien)
Aus dem Englischen von Frank Weigand
Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin
Billy soll stillsitzen. Aber das ist so ziemlich das Schwierigste, was man von ihm verlangen kann. Einen Fußball, der dem Zehnjährigen auf dem Gehweg entgegenrollt, muss er ihn auf die Straße kicken. Dazu sind Fußbälle doch da. Billy weiß oft gar nicht, wie ihm geschieht, wenn ihn sein Inneres dazu bringt, einen Schritt weiter zu gehen als es angemessen wäre. Aber wenn er sich um seine Bienen auf dem Dach kümmert, fühlt er sich verstanden. Zwar wimmeln die Bienen fast wie Billy hastig durcheinander. Doch das ist nur die Oberfläche, denn alles hat einen sinnvollen inneren Zusammenhang. Billy sorgt sich um die Bienen, die seinem Vater gehört haben, der ihn und seine Mutter verlassen hat. Und die 50.000 Bienen stechen Billy nicht. Vielleicht weil sie ihn verstehen, weil sie ein wenig sind wie er. In dem rastlosen Monolog von Evan Placey übernimmt der Held Billy die Dialoganteile der anderen Figuren. So erzählt schon die Sprache von dem Getriebensein des Jungen.
„Dschabber“ (14+)
Jabber
von Marcus Youssef (Kanada)
Aus dem kanadischen Englischen von Bastian Häfner
Rowohlt Theater Verlag, Reinbek
Sie nennen sich „Dschabber“, die Gruppe junger Mädchen um Fatima, die den Hidschab tragen und gemeinsam in eine Klasse gehen. Doch als an ihrer Schule ein fremdenfeindliches Graffiti auftaucht, zwingt ihr Vater Fatima, die Schule zu wechseln. Dort gibt es keine Dschabber und sie wird wegen ihres Kopftuchs angestarrt. Der etwas vorlaute Jonas starrt auch, oder schaut er Fatima aus einem besonderen Grund an? Jonas nähert sich Fatima auf ironisch-respektlose Art und erst als er sie näher kennenlernt und sie ihm vom Leben in ihrer Familie erzählt, beginnt er, die interkulturellen Unterschiede bewusst wahrzunehmen und scheinbar auch zu verstehen. Dass er aber nur oberflächlich verstanden hat, zeigt sich, als er die Aufzeichnung des Videochats mit Fatima im Internet postet. Ausgerechnet den Moment, als sie für ihn ihr Kopftuch ablegt. Damit kränkt er Fatima, die als eine Konsequenz wieder auf ihre alte Schule gehen darf. Oder muss?
Das Stück über die interkulturellen Konflikte, die eine Muslima wegen ihrer Beziehung zu einem einheimischen Mitschüler durchlebt, hält keine harmonisierende Lösung parat. Doch es zeigt, dass Identitätsfindung eine Aufgabe ist, vor der Jugendliche aus allen Kulturen stehen.
„Heimspiel“ (12+)
von Thomas Richhardt (Deutschland)
Junge Württembergische Landesbühne, Esslingen
Ein Lesedrama für eine ganze Klasse. Im Text wird behauptet, der Lehrer habe den Schülern dieses Stück als eine Aufgabe für den Unterricht geschrieben. Jeder Schüler hat eine Nummer und damit eine Rolle in dem Stück. Gelesen wird im Stuhlkreis. Es soll ein Stück über das Team werden, also wird das Thema Fußball gewählt. Das lässt sich am besten von einem Team erzählen. Doch die Dramatisierung, das Erfinden einer Geschichte wird schwierig. Als alle gemeinsam gerade den Plot für eine konflikthafte Geschichte entwerfen beschließen die Figuren im Stück die Kraft des Teams auf die Probe zu stellen. Mit dem Stück sollen die Lehrer überzeugt werden, am Ende des Schuljahrs niemanden sitzen bleiben zu lassen.
In diesem Lesedrama spielt der Autor mit den Konventionen der dramaturgischen Zuspitzung von Konflikten. Die Konstruktion des Textes ist ein Experiment der künstlerischen Partizipation von Schüler*innen an der Lektüre und Aufführung eines Stückes. Es erscheint reizvoll, die vielfältigen unterschiedlichen Stimmen in einer Klasse einmal alle zu Gehör zu bringen.