von Henning Fangauf
Die Klage ist altbekannt: an unseren Schulen, im Deutschunterricht spielt die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur kaum eine Rolle. Ob Prosa, Drama, Lyrik, die Werke der zeitgenössischen Autorinnen und Autoren werden nicht vermittelt und sind den Schüler*innen weitgehend unbekannt. Der Literaturkanon scheint seit Jahrzehnten festgeschrieben.
Wer der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu mehr Relevanz im Deutschunterricht verhelfen will, setzt bei der Ausbildung zukünftiger Lehrer*innen an. Das geschieht noch deutlich zu wenig, aber bereits an einigen Hochschulen, angeregt durch Professor*innen, die diese Literatur nicht nur als Gegenstand für die Erforschung der Poetologie der Autor*innen zu würdigen wissen, sondern auch ihre didaktische Relevanz erkannt haben und diese vermitteln. So ist ein kleines Netzwerk der Kinder- und Jugendliteratur-Lehrenden von Oldenburg bis Heidelberg, von Bielefeld bis Paderborn entstanden. Sie alle setzen auf die Einbindung der Autor*innen in die Lehre und schufen Begegnungsformate wie die Paderborner Kinderliteraturtage, Heidelberger Literaturgespräche, Oldenburger Poetikvorlesungen oder den Bielefelder Poet in Residence. Die Student*innen hatten bisher dank dieser Veranstaltungsreihen Gelegenheit, sich mit den Werken von so renommierten Autor*innen wie Kirsten Boje, Klaus Kordon, Martin Baltscheit, Paul Maar, Andreas Steinhöfel und anderen intensiv auseinanderzusetzen und ihnen persönlich zu begegnen. Dass diese Aktivitäten, die seit 2012 regelmäßig im Rahmen des Netzwerkes stattfinden, auch dokumentiert werden, ist ein besonderer Verdienst der Initiatorinnen.
In der Publikationsreihe Kinder- und Jugendliteratur aktuell im kopaed Verlag München lassen sich die Gespräche mit den Autor*innen, Ihre Impulsreferate und weitere Artikel, die sich wissenschaftlich und essayistisch mit den Werken auseinandersetzen, nachlesen.
2017 war die Berliner Autorin Anja Tuckermann (Berlin) Bielefelder Poet in Residence und 2018 war sie Gast der Paderborner Kinderliteraturtage. Als Ergebnis ihrer Lehrtätigkeiten und den Begegnungen mit den Student*innen ist nun Band 9 von Kinder- und Jugendliteratur aktuell erschienen, herausgegeben von Petra Josting und Iris Kruse. Auf 400 Seiten wird das Werk der Berliner Autorin, die literarisch, essayistisch und journalistisch aktiv ist wie kaum eine andere, umfangreich untersucht und gewürdigt.
Im Klappentext heißt es:
Anja Tuckermann spricht in ihren Texten für Jugendliche vieles an, das dringend aus dem Schweigen gehoben werden muss. Von besonderer Bedeutung sind ihre erinnerungskulturell bedeutsamen Romane Muscha (1994), Denk nicht, wir bleiben hier (2005) und Mano (2008), in denen sie sich mit den NS-Verbrechen an den Sinti und Roma befasst. Junge Leser*innen werden von ihr mit gleichaltrigen Protagonist*innen konfrontiert, die in ihrem Alltag mit vielfältigen Problemen zu kämpfen haben, ohne daran zu verzweifeln oder gar zu zerbrechen. Das breite Inhaltsspektrum von Anja Tuckermanns Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Lyrik verbindet sich mit einem auf ein kooperatives und erfüllendes Miteinander gerichteten problemorientiert-realistischen Schreiben.
So umfangreich ist selten das Werk einer Autorin der Kinder- und Jugendliteratur dargestellt und analysiert worden. In sechzehn Artikeln werden u.a. die Dokumentarischen Fiktionen, die Interkulturellen Begegnungen, die Adoleszenzgeschichten, die Realistisch-problemorientierten Kinderliteratur in Anja Tuckermanns Werk untersucht. Ein Beitrag, verfasst vom Autor dieser Blog-Zeilen, widmet sich der Dramatikerin Anja Tuckermann und beschreibt ihre Stücke, von denen insgesamt dreizehn vorliegen und vom Theaterverlag Felix Bloch Erben vertreten werden.
Henning Fangauf (Hofheim am Taunus) arbeitet freiberuflich als Lektor und Dramaturg. Von 1996 bis 2018 war er stellvertretender Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland. Er leitet weiterhin das Projekt Nah dran! Neue Stücke für das Kindertheater.