von Kirstin Hess
Wir schreiben das Jahr 2019, das ist das Jahr, in dem das 30-jährige Bestehen der UN-Kinderrechtskonvention gefeiert wird.
Wir alle haben damit einiges zu tun, es geht um die Rechte des Kindes und in unserem heutigen Kontext um das Recht des Kindes auf Kultur, das wir noch weiter umzusetzen haben. Gerade in einer sehr guten Situation, wie wir sie in Deutschland und gerade NRW haben – im Vergleich zu vielen Ländern der Welt, in denen Theatermacher*innen scharfe und manchmal lebensbedrohliche Sanktionen befürchten müssen.
Wir wissen dabei um die Wichtigkeit der Verbindung von Schulen und Kultur. Erst kürzlich erzählte mir eine junge Künstlerin aus Hamburg, dass Theater in ihrer Familie keine Rolle spielte. Notwendig war Geld verdienen, lernen und auf die kleinen Geschwister aufpassen. Wenn aber die Schule einen Theaterbesuch plante, sei es abends oder auch mal während der Unterrichtszeit (Stichwort „Unterrichtsausfall“ vs. Unterricht am anderen Ort!), hieß es: „Geh hin, wenn die Schule es plant, dann ist es wichtig!“ Die junge Frau ist heute Autorin und Musikerin u.a. im Kontext Kampnagel und dem Missy Magazine oder taz, sie ist die erste in der Familie, die sich mit ihrer Arbeit ohne staatliche Unterstützung ernähren kann. Die Schulen sind also entscheidender Partner auf dem Weg zu einer gelingenden kulturellen Bildung!
Doch das volle Recht auf Kultur ist erst dann verwirklicht, wenn Kinder und Jugendliche freiwillig Kulturinstitute aufsuchen. Wenn Kulturinstitute eine zwingende Relevanz für sie erlangt haben. Dafür brauchen wir noch bessere Strukturen. Die müssen wir von uns aus bringen, wir müssen in unsere Orte und Städte hinein wirken, auch eine aufsuchende Kunst entwickeln. Es muss aber auch der Weg in die Kulturinstitution einfach zu bewältigen sein: Theater für Junges Publikum hinein in die Zentren, gut erreichbar und inmitten einer attraktiven Infrastruktur! Wir müssen lernen zuzuhören und das Gehörte in die Kunst einzubeziehen. Wir müssen es schaffen, Kinder und Jugendliche an strukturellen Entscheidungen teilhaben zu lassen – und zwar wirklich! In der Kulturpolitik und auch an jedem Theater. Da ist noch eine Menge Luft nach oben, wir beginnen diesen Weg gerade erst zu gehen.
Wir befinden uns in einer Zeitenwende. Verschiedene Menschengruppen, die bislang nicht mitbestimmen konnten, beginnen sich Gehör zu verschaffen.
Es waren in den vergangenen Monaten junge Frauen, die Machtkonstellationen ins Wanken brachten. Ich darf an einen der schrecklichen Schulamokläufe erinnern. 2018, es gab bereits eine „NO-Gun“-Bewegung junger Leute in den USA, da war es Emma Gonzalez, eine Schülerin der betroffenen Schule, die durch eine Rede die Aufmerksamkeit der Welt erhielt und den landesweiten March for our lives initiierte. Eine Bewegung, die die übermächtige Waffenlobby sehr vernünftig in Frage stellt – aus dem einfachen und klaren Gedanken heraus, dass es immer wieder vor allem junge Menschen seien, die ihr Leben durch diese überall freizügig erlaubten Waffen lassen müssten. Sie, ein junges Mädchen, hat es geschafft diese Waffenlobby in die Bredouille zu bringen.
Dann gab es diese junge Schwedin, Greta Thunberg, die plötzlich freitags nicht mehr zur Schule ging, sondern sich vor ihr Parlament setzte. Fridays for future ist weltweit gewachsen. Wir sehen die Bewegung auch in Nordrhein-Westfalen, in all unseren Städten. Menschen, die noch kein Wahlrecht haben sagen uns: „Alles, was ihr entscheidet wird unsere Zukunft sein! Wir vergeben euch für das, was ihr nicht getan habt, doch wir werden es nicht weiter akzeptieren.“ Es werden immer mehr.
Darauf müssen wir Erwachsenen reagieren, das müssen wir anhören und das können wir. Wir Theatermacher*innen können auch mit der Kunst reagieren und müssen beginnen, es auch zu tun. Wir Erwachsenen müssen auch Antworten darauf finden, wie sich unser Wohlstand entwickelt hat – und dass er unter anderem auf einer jahrhundertelangen Geschichte von Ausbeutung und kriegerischen Interventionen aufbaut. Menschen, die aus hieraus entstandenen Zusammenhängen fliehen müssen, weil sie dort nicht mehr leben können, teilen hier mit uns die Gesellschaft. Wir müssen Antworten finden auf Fragen, die von Menschen gestellt werden, die lange nicht gehört wurden. Wir müssen verstehen und begreifen, dass der Eurozentrismus in seiner bisherigen Form ein Ende findet.
Wie bewältigen wir denn dieses Ende? Was können wir aus der Kunst heraus für Möglichkeiten des Diskurses geben? Wollen wir uns so einfach mit pauschalen und populistischen Antworten zufriedengeben? Wollen wir diesen Hass zulassen, der da verbreitet wird? Oder wollen wir auch in den Theatern Raum für Kontroverse und Streit schaffen? Und: Wie könnte das gelingen? Und: Was würde denn daraus resultieren, wenn wir mehr Raum für Kontroverse und Streit hätten?
Wir erleben schon seit einigen Monaten auch in NRW populistische Angriffe auf Theater und gerade auch auf Kinder- und Jugendtheater. Wir haben gerade erlebt, wie die Künstler*innen in Österreich nach dem Zusammenbruch der Regierung unter Beteiligung einer rechtspopulistischen Partei aufatmen in dem Gefühl, dem Messer gerade noch einmal von der Klinge gesprungen zu sein. Zensur, Auftragswerke mit bestimmtem Inhalt; hier und da begann ein Umbau der Kulturlandschaft. Wir wissen von Künstler*innen aus Ungarn, dass die Regierung dort jedem Theater für die Inszenierung nationaler Helden-Epen hohe Summen anbot. Das hat die Szene gespalten. Manche griffen zu und andere wurden allein gelassen. Wo können sie sich wiederfinden?
Wir haben aber auch davon Kenntnis, dass beispielsweise die ASSITEJ Südafrika den Claim führt „Changing society one child by a child. Transforming society through theatre.“ Wir wissen, dass nach dem Weltkongress der ASSITEJ, der 2017 in Kapstadt stattfand, die Regierung Südafrikas in Schulen flächendeckend Kulturelle Bildung und Theaterbesuche eingeführt hat. Daran können wir in Deutschland anknüpfen, und auch in Nordrhein-Westfalen. Wir können gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Theater, aber ganz bestimmt auch die Schulen, von dem Effizienzgedanken befreien. Wie wir Raum für weniger ‚Bildungsauftrag‘ und mehr Kunst schaffen können.
Beim International Gathering der ASSITEJ in China 2018 wurde die „Beijing Declaration“, intern auch „The Great Wall of Dreams“ genannt, entwickelt. Von den sieben Punkten will ich aus Zweien zitieren. Der erste heißt: Respect. Es wird gefragt, inwiefern wir eigentlich Kinder respektieren. Aber auch, wie Künstler*innen, die Theater für junges Publikum machen, respektiert werden. Sind sie anderen Künstler*innen gleichgestellt? Respekt stellt auch die Frage, wie wir Künstler*innen aus anderen Kontexten der Welt überhaupt verstehen und respektieren können in unserer Wahrnehmung von Kunst. Es geht in der Erklärung auch um Zugänge, Inklusion, Innovation, um künstlerische Forschung und um Freiheit. Den zweiten Punkt, den ich hervorheben möchte, ist der letzte in der Erklärung: Fürsprache/Advocacy. Wie adressieren wir die „Gatekeeper“, das sind Lehrer*innen, vielleicht auch Journalist*innen und Eltern in dem, was Kunst sein soll, kann oder darf? Die Beijing-Declaration wird im September 2019 beim jährlichen ASSITEJ Artistic Gathering, dieses Mal in Kristiansand, Norwegen weiter diskutiert und bearbeitet werden.
Zum Schluss wende ich den Blick nach Nordamerika. Gerade wurde eine bahnbrechende Studie in New York veröffentlicht. Das New Victory Theater hat diese fünfjährige wissenschaftliche Vergleichsstudie initiiert: Zwei Kindergruppen aus prekären Verhältnissen wurden über fünf Jahre begleitet. Die eine hatte Berührung mit dem Theater und kultureller Bildung sowohl in der Partizipation als auch der Rezeption. Die andere nicht.
Ein Ergebnis ist: die Gruppe, die mit dem Theater in Berührung kam, hatte signifikant bessere Schulnoten. Aus dem Theater für junges Publikum heraus betrachtet, ist das bekannt und gar nicht so verwunderlich. Was aber niemand erwartet hat, die Wissenschaftler*innen eingeschlossen, war, dass noch etwas entstanden ist. In der Gruppe, die in den Genuss von Theater und Kultur kam, bildete sich etwas, das es seit Generationen in den Familien nicht mehr gab: Hoffnung. Diese Kinder waren in der Lage, eine Vision für ihre Zukunft und auch die ihrer Gemeinschaft zu entwickeln.
Insofern danken wir in Nordrhein-Westfalen Frau Pfeiffer-Poensgen, dass sie die Kulturmittel deutlich aufgestockt hat. Wir vom Arbeitskreis des Theaters für Junges Publikum danken, dass die Spitzenförderung des Landes auf das Theater für Junges Publikum erweitert wurde. Wir freuen uns, das dieser Ausbau auch für das Theater für Junges Publikum sicher noch weiter wachsen wird. Wir freuen uns, in einer sehr guten Verbindung zu stehen – und dass wir hier in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit haben, ein paar Weichen zu stellen und damit eine Strahlkraft bis über die Landesgrenzen hinaus entwickeln können.
Verschriftlichung der Rede zur Eröffnung des WESTWIND-Festivals 2019 in Oberhausen am 15. Juni 2019 von Kirstin Hess, Dramaturgin Junges Schauspiel Düsseldorf und eine von vier Sprecher*innen des Arbeitskreises Theater für Junges Publikum NRW.
Die Rede wurde frei gehalten.