Teil 3 ist Folge 1: Countdown läuft weiter mit Carina Sophie Eberle

Virtuelle Spielzeit mit+abstand: Kategorie [aus+blick]

Foto_Carina1Hier kommt der mit+abstand dritte Teil von Übermorgen paradise, der vier Retrovisionen von Carina Sophie Eberle:

Geplant war hier eine Science-Fiction-Geschichte. Eine Zeitreise in eine utopische Welt nach der Corona-Pandemie. Delphine im Meer vor Venedig. Angepasste Kinderbetreuungsmodelle. Klug digitalisierte Schulen. Doch die Gegenwart funkte der schreibenden Theatermacherin immer wieder dazwischen, sodass Sie hier nun stattdessen deren komplett subjektive Aufzeichnungen aus den ersten Wochen der Corona-Krise vorfinden. Sie inszeniert John Cages 4’33 auf der nackten Bühne, zerbricht sich den Kopf über die existenzbedrohenden Paradoxien des Künstler*innen-Daseins und hofft, am Ende doch noch eine Art Utopie für die Zukunft formulieren zu können.

Den dritten Teil zum Download findet Ihr hier: 3_UEBERMORGEN PARADISE_Folge 1_Carina Eberle


Titel_Folge 3

26. April 2020
Kann John Cage uns weiterhelfen?

Täglich inszeniere ich derzeit 4’33 von John Cage, adaptiert für eine imaginäre Bühne und eine:n Regisseur:in. Überall und für jede:n möglich.

Kurzanleitung:
Eins: Verschaffe dir fünf Minuten Zeit.
Zwei: Visualisiere eine leere Spielfläche. Bleibe gedanklich dort.
Drei: Stelle dir einen Timer auf 4 Minuten und 33 Sekunden.
GO. 

Wem oder was sind wir als Kulturschaffende in der Krise verpflichtet? Treibt uns der „Corona-Reflex“ (Katja Grawinkel-Claassen, März 2020) auf die digitalen Spielflächen? Haben wir Angst vor der Unsichtbarkeit? Oder vor ihren Folgen? Welche Virtualitäten ermöglichen digitale Medien? Umgekehrt: Welche theatralen Formen könnten auch für die Gestaltung eines digitalen Raums interessant sein? Kann die leere Bühne eine Ressource sein? Halten wir diese Leerstelle a…

Mein Timer piept.

27. April
Die Diversität und der Baumstamm 

Es kommt mir vor, als wären die Erinnerungen an 2019 Szenarien aus einem anderen Leben, so sehr unterscheidet sich der Alltag dieses Frühjahrs vom letzten Jahr. Im vergangenen Sommer beispielsweise war ich gefühlt auf mindestens zehn Grillfesten, bin wöchentlich ICE gefahren und habe nicht im Traum daran gedacht, mir ein geblümtes Stück Stoff über Mund und Nase zu binden. Einmal, man stelle sich vor, saß ich sogar mit einer Kollegin vor einem trubeligen Restaurant in der Sonne! Die Menschen saßen dicht an dicht und lächelten sich gegenseitig an. Passant:innen drängelten sich freundlich an uns vorbei. Dann kam unser Mittagessen, einfach so, auf einem hellen Teller. Ich fragte die Frau am Nebentisch nach einem Salzstreuer. Kein Problem. Gar kein Problem und ein glasklarer Himmel, in den der Duft von Risotto mit Champignons und Parmesan dampfte. Das Risotto war gut. Und das Tischgespräch hat bleibenden Eindruck hinterlassen.

Denn meine Kollegin hatte vor Kurzem mit ihrem Team die Intendanz eines Kinder- und Jugendtheaters übernommen. Ich hingegen stand kurz vor den Endproben mit meiner damaligen Inszenierung. Wir sprachen bei diesem Essen über „Leitung“ im Sinne der Übernahme von Deutungshoheit über eine Erzählung. Chancen, Schwierigkeiten, Erwartungshaltungen. „Wie war das denn bei dir, wie hast du das gelernt?“, fragte die Kollegin irgendwann. Und ich dachte nach. Aß mein Risotto auf. Und hatte noch nicht einmal angefangen, die Frage zu beantworten. Lange Geschichte, leerer Teller. Zeit für ein Tiramisu als Nachtisch hatten wir leider nicht, danke, die Rechnung bitte.

Spickzettel

2015 besuchte ich zum ersten Mal das Westwind Festival für Kinder- und Jugendtheater in NRW. Ich war Teilnehmerin des Next Generation Forums und dabei, in einen Kulturbetrieb hineinzuwachsen, der mich meilenweit von den Maßstäben meiner Jugend (Künstler:innen sind Träumer:innen!) und ein paar Zentimeter von den weitgehend kanonisch orientierten Glanzstücken meiner Studienzeit (Geist! Individuum! Denken!) entfernte. Ich hatte zweierlei sehr grundlegend gelernt: an meinen Fähigkeiten zu zweifeln (Jugend). An der Welt zu zweifeln (Universität).

Vieles war also neu. Beim Westwind Festival 2015 fiel mir beispielsweise zum ersten Mal auf, dass es eine gewisse Diskrepanz zwischen meinen Zweifeln und den Kommunikationsstrukturen im Festivalzentrum gab. Wurde ich gefragt, was ich mache, antwortete ich mit: „Ich könnte mir vorstellen, Regisseurin zu werden.“ Wurde ich gefragt, welche Themen mich interessierten, skizzierte ich schüchtern Ideen und ließ mir dabei immer das Hintertürchen der Selbstkritik offen. Gleichzeitig hörte ich andere in wenigen Sätzen umwerfende Visionen in die Luft explodieren lassen. Schlagworte fielen gezielt. Sekundenschnell wurden Kontakte geknüpft. Kunstvolle Allianzen geschmiedet mit waghalsigen Ziselisierungen, in denen sich mein Konjunktiv verhedderte.

Ich brauchte eine Strategie. Einige Monate später auf der Zugfahrt zu einem weiteren Festival notierte ich erst die Fragen, die mir bei Westwind häufig gestellt wurden. Formulierte dann überzeugende Antworten. Goldene Regel: Konjunktiv gibt’s nicht. Die Schauspielerin Julia Riedler formulierte auf die Frage, warum es ihrer Meinung nach so wenig Regisseurinnen auf den großen Bühnen gebe, im Interview mit Theater heute (April 2018): „Es ist ja auch sehr schwierig, sich selbst zu etwas zu machen, das das Gegenteil von dem ist, in das man jahrelang hineingewachsen ist.“ Touché. Nur, zu was soll man sich denn „machen“ müssen, um die eigenen Ideen sichtbar zu machen? Gibt es da einen bestimmten Typus?

Wie werden Ideen sichtbar?

Der Typ ist stark wie ein Baumstamm. Wasserabweisend wie Lotus. Unverwundbar nach jahrelangem Bad in Theaterblut wie Siegfried nach dem Tötungsakt. Nimm dies, Drache! Ausfall eines Spielers? Ein Klacks! Kaputter Scheinwerfer? Mach’ ich mit links. Streit mit dem Beleuchtungstechniker? Machtwort! Befindlichkeiten? So etwas Profanes habe ich nicht. Lasst mich durch, ich bin Regisseur:in!

So? Beiläufigkeiten wie „Du bist ja so zierlich, hast du überhaupt genügend Substanz für so anstrengende Endproben?“ sind mir nicht fremd. Mir ist bisher nicht klar geworden, inwiefern beispielsweise die körperliche Kräftekonstitution relevant wäre für das Anleiten eines Theaterprojekts. Steht hinter solchen Kommentaren die Baumstammvorstellung? Dass es autoritäre „Stärke“ brauche, um eine Inszenierung anzuleiten? Dass das „Aushalten“ von theaterinhärenten Bedingungen (z.B. Unsicherheit und Prekarität als Normalzustand oder 14-Stunden-Probentage) eben dazugehöre? Dass man das „eben lernen“ müsse? Hommage à Darwin: Du willst kein Baumstamm sein? Dann ist das Theater kein Ort für dich. Survival of the fittest.

Der Baumstamm als Monokultur sollte ja eigentlich schon längst verarbeitet sein. Zu modularen Regietischen zum Beispiel. Seit längerer Zeit werden zu Recht Diversität und ihr zeitweiliges Fehlen thematisiert. Wird Raum gefordert für die Geschichten und Erzählungen von Menschen verschiedenen Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft.  Vielfalt der Erzählungen bedeutet Vielfalt der Erzählenden. Was bräuchte es denn, um beispielsweise mehr Frauen Deutungshoheit, sei es über eine Inszenierung oder über ein ganzes Haus, zu verschaffen? Die Probleme liegen klar auf dem Tisch, schrieb Anne Peter 2018: „Die (Un)Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die männliche Kultur der Macht, Netzwerke und Seilschaften, gläserne Decken und ungleiche Bezahlung. Sozialisationsbedingte Geschlechterunterschiede, Genie-Kult und weibliche Selbstzweifel.“

Nun finden wir im Kinder- und Jugendtheater sicherlich oft etwas andere Bedingungen vor. Eine ambivalente Situation. Gut ist die hohe Sensibilität für solche Fragen bei vielen Kinder- und Jugendtheatermacher:innen (bekanntlich mit höherem Frauenanteil). Nicht gut ist die gläserne Wand, die diese und die Akteur:innen des Abendspielplans meist voneinander trennt. Die Wand scheint aus Panzerglas und verhindert jeden Ansatz eines möglichen künstlerischen Austausch über Themen, Texte, Produktionsweisen. Wir winken uns nur manchmal freundlich zu, während viele fruchtbare Ideen verpuffen.

Alternativen und Albträume

Die Bilder, Ideen und Konzepte sind das eine. Sie in der gegebenen Struktur sichtbar machen zu können, ist das andere. So lange Akteur:innen grundlegend einfach grenzwertige Bedingungen „aushalten“ sollen, um in der Struktur Raum und Gehör zu finden, haben wir keine diverse Theaterlandschaft. Sondern ein Problem. Für das es Lösungsansätze gibt. Diese werden bereits praktiziert. Kollektive Prozesse, die Vielstimmigkeit ermöglichen. Leitungsteams mit geteilter Verantwortung und mehr Spielraum für eine individuelle Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Inszenierende, Schreibende und Theatermacher:innen, die „Leitung“ als das Schaffen eines Raums begreifen, in dem jede:r im Team sein:ihr Potential optimal entfalten kann. Das alles kann gut funktionieren, kollidiert aber auch manches Mal mit Erwartungshaltungen oder mit etablierten Produktionsstrukturen, die dann neu verhandelt werden müssen.

In der Corona-Krise steigt der Druck auf alle massiv. Selbständige Künstler:innen müssen nun eben noch ein bisschen mehr „aushalten“ als sonst. Grundsicherung, unsichere Auftragslage, noch nicht abschätzbare längerfristige Konsequenzen. Hier folgt mein nebligster Theateralbtraum dieses Corona-Frühlings: Der vorsichtig angedachte Pluralismus der Theaterlandschaft ist ein Szenario aus einem vergangenen Leben. Die Ideen all derer, die auch mit Spickzettel Hemmungen haben, die eigenen Ideen offensiv und laut zu vermarkten, liegen brach. Die zarten und zeitweilig unsicheren Erzählungen leiser Stimmen sind gnadenlos und irreversibel zum Verstummen gebracht worden. Die Auswirkungen der Krise weisen rückwärts in eine Monokultur aus Stereotypen, in der ich den Wald vor lauter Baumstämmen nicht mehr erkennen kann.

28. April
Nachtisch

Notiz im Kalender: Zum Online-Tiramisu verabreden mit der oben genannten Kollegin. Überlegen, wie Wissen und Erfahrungen über alternative Formen von „Leitung“ im Kollektiv oder mit Lippenstift – gebündelt werden könnten. Für weniger Spickzettel und mehr Spielraum. Gerade jetzt in der Krise. Wie kann eine Vielstimmigkeit der Erzählenden auch über die Krisensituation hinaus gefördert und entwickelt werden? Wer braucht welche Förderung – finanziell und ideell?

29. April
Hybrides denken

„Ist das Theater noch der richtige Ort für mich?“ Diese Frage begegnet mir ungefähr ebenso häufig wie das Übermaß. Erst heute Vormittag am Telefon mit einem Kollegen, der sich schon länger mit ihr auseinandersetzt. Berufliche Pläne B, C, D, … Sind der Fantasie da Grenzen gesetzt? Offenbar ja.

  • Sag mal, warum denken wir eigentlich immer im Gegensatz? Entweder das Theater oder etwas ganz anderes?
  • Du meinst, warum wir gar nicht darauf kommen, eine zweite berufliche Perspektive aufzubauen?
  • Ja genau.
  • Und nicht nur als Nebenjob, sondern mit ernsthaften Ambitionen?
  • Exakt.

Schweigen

  • Ich probiere mal, okay?
  • Ja okay.
  • Hallo, mein Name ist Carina.
  • Hallo, Carina. Was machst du beruflich?
  • Ich bin Teilzeit-Theatermacherin.

Irgendwas hakt, oder? Adrenalin, Auseinandersetzungen, Leidenschaft. „Ich bin ein echter Theatermensch“, klingt nach Auszeichnung, nach wahrer künstlerischer Aufopferung, klingt nach Frank Castorf. Ich lebe für die Bühne! In Teilzeit? Kann Leidenschaft in Teilzeit funktionieren?

Soziale Plastik

Wir suchen nach Beispielen. Theaterpädagog:innen haben manchmal Anstellungen in Teilzeit. Spieler:innen? Ja, bezieht man Sprecherjobs oder Filmdrehs mit ein. Regisseur:innen, Dramaturg:innen? Eher nicht? Wilde Tagträumerei: Ich bin im Job-Sharing als Dramaturgin am Stadttheater XY angestellt und arbeite dort den halben Tag. Stopp: Was heißt „den halben Tag“? Stadttheaterproben bedeuten 10 – 14 h und 19 – 23 h. Dazwischen Recherche und Sitzungen? Wäre der „halbe Tag“ dann im gewerkschaftlichen Sinne nicht eher ein normaler Acht-Stunden-Arbeitstag? Nächstes Szenario: Ich bin Regisseurin. Ich inszeniere höchstens zwei Projekte pro Spielzeit und habe eine Teilzeitfestanstellung im Bildungsbereich. Schwierig vereinbar, da die Probenzeiten wenig Raum für anderes lassen und zudem ja oftmals in anderen Städten stattfinden?

Die üblichen Produktionsstrukturen erschweren unsere telefonischen Höhenflüge etwas. Aber es bleibt ein beflügelnder Gedanke. Gerade in stressigen Zeiten bleibt oft nur der Tunnelblick auf die Bühne und auf die jeweiligen Produktionen. Wäre es nicht einen Versuch wert, über fluide Künstlerexistenzen nachzudenken? Expertisen aus anderen Bereichen auf die Bühne und theatrale Formen in andere Branchen einfließen lassen zu können? Was wäre da für ein Austausch möglich?

Dieser Gedanke erinnert mich an Joseph Beuys und seine Idee der sozialen Plastik. Versuch einer Rekonstruktion: Beuys nahm die Gesellschaft selbst als Material wahr, das durch das kreative Potenzial aller Beteiligten umgestaltet und weiterentwickelt werden kann. Letztlich bedeutet das wohl eine Erweiterung der Definition, wer als Künstler:in agiert. Beuys beschränkt kreatives Potential nicht auf die Gruppe professioneller Künstler:innen, sondern auf die Gestaltungsspielräume aller Beteiligten. Das „Werk“ ist die Gesellschaft, die Gestaltenden sind wir alle.

Theaterexistenzen offen denken?

Im Moment ist das Theater ein eifersüchtiges Tierchen. Die Wertung „ich kann davon leben“ definiert jemanden als professionelle:n Künstler:in. Nebenjobs werden manchmal sogar verschwiegen. Ziel ist es, von der Kunst leben zu können, um als professionell zu gelten. Warum eigentlich? Denn wenn es uns darum geht, Kultur und Kunst in der Lebenswelt der Menschen zu verankern, Formen des Zusammenlebens auszuprobieren und zu verhandeln, und damit die Welt ein bisschen besser zu machen, könnten wir ja auch darüber nachdenken, welche Akteur:innen, welche Art von kreativem Potential dafür eigentlich nötig sind. Der:die vollbeschäftigte Theatersuperheld:in? Oder hybride Grenzgänger:innen mit Expertisen aus verschiedenen Bereichen? Welche Produktionsformen bräuchten wir, um solche Existenzen zu ermöglichen und zu fördern? Könnten wir so letztlich auch fluidere finanzielle Existenzen ermöglichen? Und unterschiedlicheren Menschen und Charakteren das Erzählen auf der Bühne ermöglichen?

Sicher kein Allheilmittel. Aber an einem Impfstoff wird ja auch noch geforscht.

—- paradise folgt —-


Unseren kompletten Spielplan findet Ihr HIER.

BMFSFJ_2017_Office_Farbe_deDie Rechte liegen bei der Autorin.
Das Projekt wird finanziert aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes (KJP) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie aus Mitgliedsbeiträgen der ASSITEJ.

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