Notizen und fotografische Eindrücke aus Parchim von Annett Israel
Am Vorabend der Festivaleröffnung – es dämmert schon – laufe ich auf menschenleeren Straßen vom Bahnhof ins Zentrum der kleinen Stadt vorbei an etlichen Schaufenstern, die Wildwechsel plakatiert haben. In meiner Herberge werde ich gefragt, ob die vielen Kinder und Jugendlichen, die vor ein paar Tagen auf dem Marktplatz zusammentrafen, mit dem Festival zu tun hätten. Eine kleine Stadt, mit einem mittelalterlichen Kern, mitten in Mecklenburg-Vorpommern, in Vorfreude auf ihr Theaterfest!
39 Theater aus fünf Bundesländern (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Berlin und – in 2019 neu hinzugekommen – Mecklenburg-Vorpommern): mit dem AK-Ost traf sich der größte regionale Arbeitskreis der ASSITEJ Deutschland e.V. zum regionalen künstlerischen Austausch, zur ASSITEJ-Werkstatt, Fachforen und Fachgesprächen, zum Parchim-Bürger*innendinner und zu einem theatralen Stadtspaziergang, den Kinder des Ortes mit Videobotschaften zu Denkmälern- und Hausgedenktafeln der Vergangenheit vorbereitet hatten, um Spieler*innen der Ensembles des AK-Ost zu theatralen Denkmal-Miniaturen zu inspirieren. Schließlich haben alle Theatermacher*innen und Parchimer*innen gemeinsam ein temporäres Denkmal der Gegenwart zu erschaffen.
Die Vielfalt der unterschiedlichen Begegnungsmöglichkeiten mit Darstellender Kunst, die in Parchim zu erleben war und sich bewusst in die Stadt und zu ihren Bewohner*innen öffnen wollte, war auch Ergebnis der vorangegangenen Diskussionen und des Engagements einzelner Arbeitsgruppen im AK-Ost, die die Festivalmacher*innen konzeptionell unterstützten.
Mit der Auswahl von acht einzigartigen Inszenierungen und Performances für ein junges Publikum, darunter eine Musiktheaterproduktion für das allerjüngste Publikum sowie eine Jugendclubproduktion, ist es der dreiköpfigen Jury gelungen, neben dem Fachpublikum auch die Parchimer Kinder und Jugendlichen und etliche dem Zielpublikum längst entwachsene Einzelbesucher*innen für die Vielfalt theatraler Formen zu begeistern. Das zeigte sich auch am Abend der Preisverleihung, denn die beiden Produktionen wurden diesmal ausschließlich von einer Kinder- und einer Jugendjury vergeben, die jeweils sehr heterogen besetzt waren.
The winners are: Aufstand der Dinge, ein Generationenprojekt zur Nachwendezeit und Stückentwicklung von 8-108 Jahren vom Theater Chemnitz in Kooperation mit dem Programm „Neue unentdeckte Narrative“ des Asa-FF e.V. und dem Industriemuseum Chemnitz – und: Regarding the Bird, eine Klassenzimmerproduktion ab 13 in der Regie von Jürgen Zielinski vom Theater der Jungen Welt Leipzig.
Es blieb nicht bei dieser einen, eingangs beschriebenen, freundlichen Begegnung mit den Bewohner*innen in der Stadt. Ob im Buchladen, im Café, auf der Straße, wenn ich oder andere Festivalteilnehmer*innen sich Weg suchend oder sonstwie fragend umschauten: es blieb jemand stehen, erklärte geduldig den Weg oder gab sein*ihr Bestes, um weiterzuhelfen. Dieses Beteiligtsein der Kleinstadtbevölkerung hat ebenso wie die sympathische Gastgeber*innenschaft des Teams und das uneingeschränkten Engagement aller Mitarbeiter*innen und Ensemblemitglieder des Jungen Mecklenburgischen Staatstheaters viel zur entspannten Atmosphäre beigetragen, die alle gastspielenden Theatermacher*innen in Parchim genießen durften.
Theater in ländlichen Räumen kann ein Ereignis sein, doch es ist nicht selbstverständlich, dass es sein Publikum trifft. Denn anders als in großstädtischen und urbanen Kontexten sind die Künstler*innen in ländlichen Räumen gefordert, den Weg zur Kunst durch intensive Beziehungsarbeit zu den dort lebenden Menschen auf Augenhöhe zu bereiten. Insofern war die Arbeitsgruppe des AK-Ost, die die ASSITEJ-Werkstatt „Land-Stadt -Rand. Ländliche Räume und die Kunst – Eine Liebe auf den zweiten Blick“ (Rückblick folgt) in Zusammenarbeit mit dem KJTZ (im Rahmen des Arbeitsschwerpunkts Dialog mit den Regionen) vorbereitet hatte auf der richtigen Spur, wenn sie u. a. fragte: Welches künstlerische Interesse haben wir wirklich, wenn Städter*innen auf die ländlichen Räume schauen und umgekehrt? Wie sehen neue Modelle aus, die im ländlichen Raum nicht nur die Spielorterweiterung sehen, sondern Begegnungen auf Augenhöhe initiieren, die mehr sind und länger bleiben als für die Dauer eines Projektes?
Dazu waren für Impulsvorträge und Arbeitsgruppen unterschiedliche Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis geladen, die ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mit etwa 30 Teilnehmer*innen aus vielen Regionen Deutschlands teilen wollten. So gab uns die Ethnologin Dr. Juliane Stückrad, frisch gewonnenes Jurymitglied im Programm Wege ins Theater, mit auf den Weg, jeden ländlichen Ort, an dem man künstlerisch tätig sein will, vorab in seiner eigenen Logik verstehen zu lernen und nicht defizitär zu betrachten, sondern herauszufinden, wo zivilgesellschaftliches und kulturelles Engagement längst schon da ist und genau damit (etwas) anzufangen. Mit der freiwilligen Feuerwehr ebenso wie mit dem Kirchenchor oder dem kleinen Orchester oder der Fest- und Feierkultur, die Traditionen fortschreibt oder neu erfindet. „Das Land hat seine eigenen Maßstäbe.“ Und diese seien ganz andere als jene in der Stadt. „Kulturprojekte können Vertrauen und Wertschätzung der lokalen Gegebenheiten schaffen“ und dabei vom „Routinewissen und von bestehenden lokalen Netzwerken“ profitieren – um nur einige der vielen Gedanken hier festzuhalten. Verwiesen sei auf die im Sommer erschienene Publikation Theater in der Provinz. Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm, aus der Thilo Grawe (Mitautor) Positionen, Thesen und Fragestellungen als Impuls in die Werkstattrunde gab.
In den Arbeitsgruppen wurden Zukunftsmodelle diskutiert:
- „Residenzen: Vor- und Nachteile eines Erfolgsmodells“ – Ilona Sauer berichtete von Erfahrungen der FLUX-Residenzen in Hessen
- „Ein Dorf – eine Inszenierung“: Wie schafft man langfristig Beteiligung? – Mira Ebert Regisseurin und Mitinitiatorin von Dorf macht Oper berichtete u.a. von ihrer Zusammenarbeit mit dem Festland e.V. in Klein Leppin, einem Dorf im Land Brandenburg
- HeimatBEWEGEN: Engagement von Bürger*innen als Motor für Kulturarbeit – Anneke Richter berichtete von der Arbeit eines Vereins, der im Harz aus Eigeninitiative Netzwerke bildet und Kulturveranstaltungen ausrichtet.
Das Thema „Theater in ländlichen Räumen“ wird den AK-Ost der ASSITEJ weiter begleiten, denn das nächste Wildwechsel-Festival soll 2021 in Bernburg in Sachsen-Anhalt stattfinden.