Warten, dass die Zeit vergeht

Nah dran! Uraufführung in Lüneburg

von Gerd Taube

Theater Lüneburg – WIE ICH ÜBER MEINEN SCHATTEN STOLPERTE UND IMMER IMMER WIEDER AUFSTAND Foto: tonwert21.de – Hans-Jürgen Wege

Letzte Woche rief mich die Leiterin des Jungen Theaters Bremerhaven, Bianca Sue Henne, an, um dem KJTZ als Träger des Förderprogramms für neue Stücke für das Kindertheater Nah dran! mitzuteilen, dass die für 19. Februar 2023 angekündigte Uraufführung des mit einem Nah dran! Stipendium geförderten Stücks Jetzt ist Schluss von Carsten Brandau auf den 21. März 2023 verschoben werden muss. Ich habe ihr dann erzählt, dass ich am 10. Februar 2023 nach Lüneburg fahren würde, wo am dortigen Theater Brandaus Stück Als ich über meinen Schatten stolperte, aber immer immer wieder aufstand uraufgeführt wird. Und wir sprachen darüber, dass ich mich beim Lesen dieses, ebenfalls von Nah dran! geförderten, Stücks, schwergetan hätte. Bianca Henne erwiderte, dass sie Brandaus Texte liebe. Für sie sei das Absurdes Theater für Kinder. Brandau, der neue Beckett aus dem Norden?

Nun habe ich die Uraufführung in Lüneburg besucht, die wegen Corona um ein Jahr verschoben werden musste. Durch die Aufführung in der Regie der Leiterin des Jungen Theaters Lüneburg, Sabine Bahnsen, habe ich nun das Stück verstanden, dessen Lektüre mir so viel Mühe bereitet hatte. Irgendwie absurd ist die Situation dieses handlungsarmen Stückes schon. Aber Ich und Du, die beiden Hauptfiguren warten nicht auf Godot, sondern darauf, dass die Zeit vergeht. Und so absurd die Dialoge in der eigenartigen Brandauschen Diktion auch sein mögen, das Problem, um das es geht, dürfte dem Kinderpublikum bekannt vorkommen. Warum muss ich warten, dass die Zeit vergeht und ich in meine Schuhe reingewachsen bin? Warum muss ich auf den Sommer warten und wenn es dann Sommer ist, wann wird es Winter? Immer abwarten und Tee trinken. Die philosophische Dimension dieses kindlichen Dilemmas wird durch Brandaus Stück nicht kleingeredet oder als Banalität abgetan, sondern in seiner existenziellen Bedeutung behauptet. 

Die Inszenierung nimmt die philosophische Tragweite des Stücks ernst und greift zugleich den sprachspielerischen Gestus auf, um ihm eine körperlich-gestische Ebene, mit bisweilen tänzerisch-artistischen Elementen, hinzuzufügen. Wenn in der Aufführung aus dem geschriebenen Text eine lebendige Bühnenfigur wird, dann ist das das Verdienst der beiden Hauptdarsteller (Niklas Schmidt und Yves Dudziak). Auf einmal bekommen die, beim Lesen seltsam redundant wirkenden Repliken der Dialoge, Sinn und Begründung. Und scheinbare oder tatsächliche Wiederholungen wirken durch die sich verändernden Situationen als Verstärkung der Grundsituation des Wartens und der Langeweile. Und das ist ganz klar das Verdienst des Autors, der genau das in seinen Text eingeschrieben hat. Und zwar nicht vordergründig, sondern durch die Dramaturgie der Wiederholung und eine Syntax der Auslassungen und Sprachstolperer. Beckett würde davon sprechen, ein Loch nach dem anderen in die Sprache zu bohren, bis das was dahinter lauert hindurch dringt.

Gerade lese ich den Text des nächsten Nah dran! geförderten Stücks von Brandau Jetzt ist Schluss, das demnächst in Bremerhaven zur Uraufführung kommt. Mit 75 Seiten scheint es überdimensioniert für das Kindertheater und die Sprache ist wieder alles andere als einladend für den stillen Leser. Ich höre auch aus Bremerhaven, dass das Textlernen für die Inszenierung von Bianca Sue Henne eine Herausforderung für die Schauspieler*innen ist. Aber sie werden sicherlich bei der weiteren Probenarbeit hinter die heimliche Dramaturgie und die versteckten Mechanismen des Textes kommen. Brandaus Stücke sind eben nichts für die stille Lektüre. Sie wollen auf die Bühne. Auch wenn Dramaturg*innen etwas Geduld und Einfühlungsvermögen für den Text brauchen, um ihm diesen Drang zur Bühne zu glauben. Und das meine ich explizit als Ermunterung an die Theater, die Dramaturgien und die Regisseur*innen, den Stücken Carsten Brandaus eine Chance zu geben, auf die Bühne zu kommen. Sie entfalten erst dort ihre ganze Tiefe und Ausdruckskraft. Denn Brandaus absurd daherkommende Texte haben mehr mit dem Leben, Denken und Fühlen von Kindern zu tun, als manches sich realistisch gebende Themenstück. 

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